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Die besten Alben im 1. Halbjahr 2017

Alles was sonst nirgends passt!

Die besten Alben im 1. Halbjahr 2017

BeitragAuthor: Tuxman » Sa 1. Jul 2017, 22:18

Ach, wie haben sich die Leute doch gefreut, als das für Musiker erstaunlich tödliche Jahr 2016 ein Ende nahm. Ich wartete mit der musikalischen Jahresrückschau 2016 also sicherheitshalber bis Januar - und am Tag darauf wurde der Tod John Wettons vermeldet. Ebenso hat dieses Jahr bisher Chuck Berry, Allan Holdsworth und sicher noch ein paar bemerkenswerte Musiker sozusagen auf dem Gewissen. Das macht doch alles keinen Spaß mehr.

Und wie immer, wenn ich den Spaß zu verlieren meine, hilft - der Ironie bin ich mir bewusst - Musik, den rechten Pfad wiederzufinden. Es folgen konsequent die primasten Musikalben des ersten halben Jahres 2017 abzüglich der bereits zuvor thematisierten neuen Alben von Buckethead, Pontiak und All Them Witches. Ich empfehle alles Weitere den jeweiligen Artikeln zu entnehmen.

Es gibt diesmal ein paar Besonderheiten zu vermelden: Verzichtet wird diesmal aus Motivationsgründen auf die Rückschau auf die letzten 40 Jahre sowie ab sofort auf die "Schrott"-Rubrik, denn das Leben ist zu kurz, um sich mit schlechter Musik zu beschäftigen. Man verzeihe mir die ausnahmsweise Kürze der Hauptliste - am Ende des Jahres gibt es um so mehr nachzuholen. Die Rezession macht vor niemandem Halt.

Gerade deshalb: Einen Kopfsprung gewagt!

1. Hörstu!

  1. Endless Floods - II (Cover)

    Im November 2014 erschien mit "The Endless River" das letzte und mit großem Abstand langweiligste Studioalbum der sicherlich nicht ganz unbekannten Artrockband Pink Floyd. Mit diesem Album haben Endless Floods nichts gemeinsam.

    Vielmehr handelt es sich bei diesen um einen Abkömmling der französischen Drone-Metal-Gruppe Monarch (auch: Monarch!), mit der sie zwei Mitglieder, aber auch stilistische Besonderheiten teilen. Dem unbestreitbaren Fakt, dass französischer Gesang in guter Musik höchstens ironisch etwas zu suchen hat, steht beruhigend entgegen, dass auf "II", dem zweiten Vollzeitalbum von Endless Floods, nicht besonders viel gesungen wird, was das Album selbst um so intensiver macht.

    In den drei - na gut, zweieinhalb - Stücken auf "II", von denen das erste ("Impasse") allein über 24 Minuten lang ist, geht es nämlich recht dicht zu. Kolossale Drones, die sich langsam aus dem Lautsprecher schieben, werden von einem geisterhaften Schlagzeug und verzerrten, Gänsehaut erzeugend verzweifelten Schreien, zu denen es bestimmt auch irgendwo einen nachlesbaren Text gibt, begleitet. Gegen Ende des Stücks, das zwischendurch so langsam wird, dass es beinahe zum Stillstand kommt (zum ersten Mal recht früh nach etwa vier Minuten), nimmt die Gitarre doch ein wenig Fahrt auf, was vom seltsamen zweiminütigen Interludium "Passage" (im Wesentlichen gänzlich unaufgeregtes Fingerpicking) nur kurz unterbrochen wird.

    "Procession", mit 19:30 Minuten Laufzeit abermals recht lang, macht musikalisch da weiter, wo "Impasse" aufgehört hat: Unterlegt von einem Grollen, diesmal jedoch ohne weitere Stimmbeteiligung, errichtet die Rhythmusabteilung von Endless Floods ein drohendes Fundament, über dem die Gitarre sich endlich auch einmal auf kurze Noise-Ausflüge - soll heißen: ordentlich verzerrter Krach - begeben darf. Insgesamt jedoch sind diese sicherlich nicht die Essenz von "II", sondern es ist die schiere Emotionalität, die Drone-Metal wie dieser sie nun einmal besitzt. Intimität ohne Gesäusel. Ich mag das.

    Reinhören: "II" gibt es zurzeit als Download und auf Vinyl-LP sowie Kassette zu kaufen, auf Bandcamp.com gibt es weitere Informationen sowie einen vollständigen Stream vom Album.

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  2. The Tiger Lillies - Cold Night in Soho (Cover)
    "If you want to win, take heroin!" (Heroin)

    Das britische Dark-Cabaret-Trio The Tiger Lillies ist mittlerweile seit 28 Jahren nicht nur existent, sondern auch recht produktiv: "Cold Night in Soho" ist ihr mittlerweile 30. Studioalbum und das erste seit vielen Jahren, das keine Vertonung bekannter Literatur ist. Nun sind die drei Herren bei Weitem keine Gute-Laune-Combo und haben sich daher auch diesmal ein Thema ausgesucht, das nicht eben einen Anlass zum Feiern lässt: Sänger und Texter Martyn Jacques schrieb, so wird behauptet, Erinnerungen an das Soho der 1980-er Jahre, als die Tiger Lillies ihre ersten gemeinsamen Auftritte absolvierten, auf, bevor auch dort die Gentrifizierung einsetzte.

    Dieses noch nicht "klinisch gereinigte" (Andy Gill) Soho scheint Lou Reeds New York nicht unähnlich gewesen zu sein: Schwermütig beginnt das Album mit Bluesgesang zu nachdenklicher Klavierbegleitung, "Salvation Army" beschreibt die Zustände in Soho als von Drogendealern, Prostituierten und Gottlosigkeit bestimmt. Auf den Straßen tummeln sich Alkoholiker ("Let's Drink"), Erfrorene ("In The Winter", "Just Another Day"), Ziellose ("Ticking of the Hours"), an und trotz ihrer Religion Verzweifelte ("The First Day", "Go"), Diebe ("Soho Clipper Blues") und Drogensüchtige ("Screwed Blues", "Heroin"). In diesem Stadtbezirk, das steht außer Frage, möchte man nicht wohnen müssen.

    Transportiert wird die Erzählung in tiefem Blues, melancholischem Walzer ("You Wouldn't Know") und der bandtypischen Zirkusmusik ("Heroin") mit Falsettgesang, der auf "Cold Night in Soho" auch schon mal überraschend aggressiv ("Dance Floor") daherkommt. Im bisherigen Schaffen der Tiger Lillies ist dieses Album nicht besonders ungewöhnlich, weshalb "Cold Night in Soho" als übermäßig herausragendes Album zu bezeichnen sicherlich aus rein musikalischer Sicht unpassend wäre, jedoch ist und bleibt der Anspruch, den ich an ein Album stelle, um bedeutsam genug zu sein, dass es mir besonders gut gefällt, und "Cold Night in Soho", eine musikalische Geschichte auf durchaus immer noch hohem Niveau, erfüllt dieses Kriterium mit Bravour. In den schweren Momenten im Leben kommt diese Musik gerade recht.

    Reinhören: Für einen Komplettstream möge sich TIDAL anbieten, für Stream und Kauf selbst steht auch das Angebot von Amazon.de zur Verfügung.

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  3. Pryapisme - Diabolicus Felinae Pandemonium (Cover)

    Ein Priapismus ist, latinisiert benannt, eine schmerzhafte Dauererektion. Natürlich stammt eine Band dieses Namens - hier Pryapisme geschrieben - aus Frankreich.

    Die fünf Musiker, eine der verrücktesten Bands der Welt, nennen sich auf ihrer wunderschönen Website, die voller Katzenbilder und schlimmer Farben ist, eine Rokokocore-Band und haben im Februar dieses Jahres ein derzeit (Stand: 4. Juni 2017) noch nicht auf ihrer Bandcamp-Seite verfügbares neues Studioalbum namens "Diabolicus Felinae Pandemonium", was auf Deutsch nach Grammatikkorrektur ungefähr "das teuflische Pandämonium der Katze" bedeutet. Korrekterweise ist das derzeitige Bandlogo anscheinend auch eine 8-Bit-Regenbogenkatze mit einem umgedrehten Kreuz auf der Stirn, was zu einer Band wie dieser, die mit vermeintlichen Tabus umgeht wie kaum eine zweite, hieß das Debütalbum doch "Rococo Holocaust", großartig passt.

    Musikalisch haben wir es hier, wie der Banause sofort erkennt, mit einem schrecklichen Lärm zu tun. Über zehn Stücke hinweg wird überwiegend instrumental (in "La Boetie Stochastic Process" ist vorübergehend sexualisiertes Stöhnen zu hören) so etwas wie Genres nicht bloß ignoriert, sondern rücksichtslos in Scherben schlägt, immer wieder unterbrochen von Miauen und Schnurren der beiden Bandkatzen La Belette und Styx. Vergleichbare Bands? Ha! Pryapisme pürieren Digital Hardcore, Spacerock, Mathrock, Jazzrock und Progressive Metal - und das oft ("A La Zheuleuleu") schon binnen anderthalb Minuten - und gießen das Gebräu in einen dampfenden Kessel, der von des Trans-Siberian Orchestras längst legendärem "Wizards in Winter" über Atari Teenage Riot bis zum Penguin Cafe Orchestra alles, was es während seiner Herstellung berührt hat, in Flammen setzt. Dass das Stück "C++" mit der gleichnamigen Programmiersprache nicht mehr zu tun hat als mit eigentlich allem anderen, überrascht den Rezensenten da auch nicht mehr im Geringsten.

    Was die Band dem irritierten Genießer damit (und mit den Katzen) eigentlich sagen möchte, bleibt unerklärt und auch deshalb Teil der Faszination. Genres, Schubladen, Kategorien - alles Quatsch. Eine schmerzhafte Erektion bekommt man davon nicht, nur vorübergehend fühlt sich der Kopf ein wenig wattig an. Das legt sich vielleicht irgendwann.

    Reinhören: Auf Amazon.de gibt es die üblichen Ausschnitte zu hören, auf Bandcamp.com einen Einblick in das bisherige Schaffen der Gruppe. Das komplette Album können zurzeit unter anderem TIDAL-Kunden streamen.

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  4. Kairon; IRSE! - Ruination (Cover)

    Kairon; IRSE! ist eine junge finnische Band, deren Name zwar sehr schön sperrig ist, aber angeblich, glaubt man den Musikern selbst, keinerlei relevante Bedeutung hat, sondern lediglich so nervig aussehen soll wie möglich. Skandinavischer Humor trifft den meinen mitunter durchaus.

    Mit dem im Februar 2017 erschienenen "Ruination" veröffentlichte Svart Records nun ihr zweites Studioalbum, das zumindest leichter auszusprechen ist als der Erstling "Ujubasajuba", im Gegensatz zu diesem verzichtete das Quartett für "Ruination" auch weitgehend auf Improvisationen, sondern verbrachte laut eigener Aussage zwei Jahre mit Komposition und Abmischung. Leichte Kost aber bleibt hier fern; es ist, als wäre diese Band auch dann gut, wenn sie sich professionalisiert. Verrückt!

    Auf die Ohren gibt es eine feine Mischung aus Shoegaze ("Sinister Waters I"), Hardrock inklusive jaulend riffender Gitarre ("Starik") und dem guten alten progressiven Jazzrock der 1970-er Jahre mit recht kühlem Gesang, den man aus Hallgründen bedauerlicherweise nur schwer versteht. Gastmusiker Andreas Heino setzt mit Saxophon und Klarinette stiluntypische Akzente, selten begleitet von Violineneinsatz des Sängers Dmitry Melet.

    Die im "Guardian" gewählten Vergleiche - Yes, King Crimson, Gentle Giant, Ornette Coleman, Fairport Convention - entfachen des Musikfreunds Begeisterung keineswegs zu Unrecht, und oft ist "Ruination" das alles gleichzeitig und klingt trotzdem so frisch und modern wie nur wenige andere jazzrockbeeinflusste Alben dieses noch recht jungen Jahres. Kairon! Irse!

    Hörnse rein: Das komplette Album liegt derzeit (8. Juni 2017) für Stream und Download auf Bandcamp.com herum, für CD und Vinyl ist Amazon.de nicht ungeeignet.

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  5. Sleaford Mods - English Tapas (Cover)
    "Brexit loves that fucking Ringo" (Dull)

    Gleiches Jahrzehnt, andere Szene.

    Das englische Duo Sleaford Mods stammt aus Nottingham (ha, reingefallen!) und macht minimalistischen Postpunk mit Anspruch. Das diesjährige Studioalbum "English Tapas" landete in der britischen Hitparade, seit jeher ein etwas weniger schlechter Indikator für gute Musik als es die hiesige ist, immerhin auf Platz 12. Der Bandname hat zwar mit der Modbewegung (vgl. The Who) durchaus etwas zu tun, die Musik jedoch nur ein bisschen.

    Vokalist Jason Williamson und Klangerzeuger Andrew Robert Lindsay Fearn (wie man als Engländer halt so heißt) nämlich haben es mit Gitarrenmusik nicht so, weite Teile des Albums bestehen stattdessen aus geringer Rhythmusuntermalung, also Bass und etwas Schlagzeug, zur gewaltigen Stimme Jason Williamsons, was trotzdem noch so klingt, dass es ohne zu zögern Bands wie Art Brut, The Fall und tatsächlich, in den etwas weniger zurückhaltenden Momenten ("Army Nights"), auch die Smiths ins Gedächtnis ruft.

    Ganz Punk sind Sleaford Mods in ihren mit starkem nordenglischem Dialekt vorgetragenen (zumeist gerappten) zeit- und szenekritischen Texten, deren Themenspanne vom "Brexit" und seinen Protagonisten ("Dull", "Moptop") über die Pleite der Kaufhauskette BHS ("B.H.S.") bis hin zu nostalgisch verklärten Früher-war-alles-besser-Musikhörern ("Just Like We Do") reicht; was mich einerseits zwar trifft, andererseits aber auch nicht gerade abstößt. Ich werde wunderlich, vermute ich.

    Reinhören: Zu meiner Überraschung gibt es Videos zu "Moptop" und "B.H.S." mit einander recht ähnlicher Handlung, ansonsten möge Amazon.de oder TIDAL herhalten.

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  6. Thinking Plague - Hoping Against Hope (Cover)

    Das trotz ausbleibender personeller Überschneidungen gelegentlich als zumindest stilistischer Nachfolger von Henry Cow benannte Musikprojekt Thinking Plague ist nun auch schon seit über drei Jahrzehnten in wechselnder Besetzung aktiv. Wenngleich die Abstände zwischen zwei Alben - das Vorgängeralbum "Decline and Fall" fand hier im Juni 2012 meine nicht ganz ungeteilte Aufmerksamkeit - nicht mehr die Kürze von einst haben, so bleibt die Musik doch packend.

    Das könnte auch daran liegen, dass die schon angesprochene Besetzung sich ausnahmsweise nicht nennenswert geändert hat. Neben Gründungsgitarrist Mike Johnson und so weiter ist auch die bemerkenswerte Sängerin und Akkordeonistin Elaine Di Falco, die schon auf dem Vorgängeralbum mit ihrem schräge Kontrapunkte einführenden statt bloß die Melodie begleitenden Gesang die sowieso schon prima RIO-Kompositionen letztlich veredelt hat, noch an Bord. Der inzwischen ebenfalls langjährige Bassist Dave Willey, der auch unter eigenem Namen bereits sehr ähnliche Musik veröffentlichen ließ, setzt mit donnernd grollendem Bass schließlich genau die richtigen Akzente in einem Album, das streckenweise ("Thus Have We Made the World") den Genreursprung im Jazz nicht zu übertönen, sondern zu betonen versucht.

    Die renommierte Plattenfirma Cuneiform, die auch "Hoping Against Hope" vertreibt, erklärt das Album ungefähr so:

    Wolken schaukeln über einen sturmverhüllten Himmel, aber während sie kurzzeitig seltene Scherben aus Blauem freigeben, lauern meist noch schwärzere, düsterere Graus hinter den Nebeln. (...) So viel diese Musik auch abverlangen mag, so ist sie doch gemacht worden, um einfach und, noch wichtiger, wunderschön zu klingen.


    Und genau das tut sie.

    Reinhören: Bandcamp.com oder Amazon.de.

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  7. Orchestra Of The Upper Atmosphere - ϴ3 (Cover)
    "Time opens the mind, time opens the door." (Synaptic)

    Von einer Musikgruppe, die sich Orchestra Of The Upper Atmosphere nennt, Bemerkenswertes zu erwarten ist sicherlich kein besonders gewagtes Unterfangen. Dass mir die mehrköpfige britische Combo um den Multiinstrumentalisten Martin Archer trotz umjubelter Liveauftritte mit Damo Suzuki erst mit ihrem dritten Studioalbum "ϴ3", also "Theta 3" (ein großes Theta sieht, das halte ich dem Benenner zugute, ja fast wie eine Null aus) - der Vorgänger von 2014 hieß selbstverständlich "ϴ2" - ins Netz geraten sind, ist insofern so schade wie erstaunlich.

    Wie schon die beiden Alben davor kommt auch "ϴ3" auf zwei CDs daher, von denen eine vermutlich aus typografischen Gründen "kleines Alpha" und eine "großes Omega" heißt. Eine Vinylversion scheint es nicht zu geben. Enthalten sind jeweils zehn Stücke, deren Titel meist irgendetwas mit Astronomie zu tun haben. Klar: Wer als Orchestra Of The Upper Atmosphere gemeinsam musiziert, der schwebt nicht nur musikalisch in höheren Sphären. Zu sphärischer Musik passt natürlich auch eine ausladende Besetzung, und so ist das Orchestra Of The Upper Atmosphere hier ein Septett, unterstützt von drei Streichern und einem Posaunisten.

    Von Klassik ist hier, ungeachtet der Posaune, nichts zu hören, stattdessen treibt man sich auf dem weiten Feld zwischen Kammer-, Kraut- und gongesquem Spacerock sowie elektronisch geprägtem Jazz herum, nicht ohne auch mal einen Abstecher in den Blues ("Solar Prominences") oder den Freejazz (das erfrischend freiförmige Ende von "Pororoca") zu machen. Zweifellos fällt "ϴ3" in die genrelose Kategorie jener Alben, für deren Genuss einander eine gute Reise zu wünschen nicht falsch wäre, auch, wenn es mitunter gilt, auf dem Flug klanglichen Asteroiden ("Circumzenithal", "Pororoca") auszuweichen. Die Musik schwirrt derart einnehmend am wohlgesonnenen Hörer vorbei, dass ihm nur wie durch einen Schleier überhaupt wahrnimmt, dass - auch hier lassen Gong grüßen - erst nach der Hälfte der ersten CD in "Anisotropic Shapes" so etwas wie Gesang, es ist eher ein fernes Flüstern, einsetzt. Frau frostlake, trotz des interessanten Künstlernamens außerhalb des Bandkontexts bisher kaum musikalisch in Erscheinung getreten, macht ihre Sache wirklich gut.

    "ϴ3" gehört zu den bisher wenigen Alben des Jahres 2017, die ihre eigene Stimmung nicht nur selbst mitbringen, sondern die des geneigten Rezensenten dabei völlig ignorieren. Schlechte Laune? "ϴ3" hören! Bestens drauf? "ϴ3" hören! Melancholisch? Richtig: "ϴ3" hören! Übrig bleibt ein einziges Gefühl: Man ist irgendwie zufrieden mit der Welt. Das ist ja auch nicht schlecht.

    Reinhören: Auf der Website zum Album gibt es zurzeit (25. Juni 2017) neben einer Kaufmöglichkeit auch einen zwölfeinhalbminütigen Auszug aus der hier enthaltenen Musik zu hören.

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  8. Faust - fresh air (Cover)

    Von den zwei konkurrierenden Fausts ist diese (Eigenschreibweise derzeit: faUSt) die offenbar derzeit im Studio aktivere. Seit sich die Wege von Hans-Joachim Irmler, der seitdem mit einer eigenen Formation von Faust aktiv ist oder war, und den beiden anderen noch aktiven Faust-Gründungsmitgliedern nach über dreißig Jahren der musikalischen Zusammenarbeit um das Jahr 2002 herum wohl endgültig getrennt haben, sorgt zumindest letztere Formation weiterhin regelmäßig für frischen Wind.

    2011 befasste ich mich mit "something dirty", dem damals aktuellen Studioalbum dieser Formation, den Nachfolger "j US t" hingegen habe ich leider weitgehend verpasst. Sicher ist jedenfalls, dass mit Alter und Besetzungsreduktion keine Milde eintritt, was nicht nur von Anhängern der Krautrockikonen, sondern auch von Verantwortlichen offenbar geschätzt wird: Die Hamburger Plattenfirma Bureau B, das auch andere Größen der deutschen elektronischen Musik vertrieb und vertreibt, ist auch für dieses Album zuständig.

    Anders als die vorherigen Alben wurde "fresh air" in Teilen jedoch nicht in den Bandstudios in Los Angeles und Austin - man kommt auch als Krautrockikone offenbar durchaus in der Welt herum - aufgenommen, das Titelstück und das letzte Stück "Fish" nämlich entstammen im WFMU (ein nichtkommerzieller Hörfunksender in New Jersey) entstandenen Aufnahmen.

    Komponiert wurde aber auch im Studio wohl eher nebenbei. Bandfranzose Jean-Hervé Péron erwähnte einmal, auf "fresh air" habe die Band sich an Cadavre Exquis versucht, einer im Surrealismus beheimateten Methode zum Erreichen kreativer Höhepunkte, indem die einzelnen Künstler von den Ergebnissen ihrer Mitstreiter nichts wissen. Wer annimmt, dass das zu schwer erträglicher Musik führte, der unterschätzt Faust sehr, denn "fresh air" klingt zwar erwartungsgemäß nicht weniger sperrig als vorherige Alben der Band, dabei aber keineswegs unzugänglicher als zum Beispiel The Velvet Underground, deren "The Black Angel's Death Song" ich in der Klangsammlung auch wiederzufinden meine, oder die früheren Genrekollegen Can.

    Als Gäste sind aus "fresh air" unter anderem die Sängerin (hier vielmehr: Erzählerin) Barbara Manning und der mit ganz anderer Musik (Die Krupps) bekannt gewordene Jürgen Engler zu hören, es werden mal ein polnisches Gedicht, mal französische oder englische Texte rezitiert, während die Instrumentalisten mit reichlich Perkussion hypnotisch-repetitiv ("Birds of Texas") bis dissonant-aggressiv ("Lights Flicker") draufloskrauten. Alt und verbraucht wird es bei Faust wohl niemals geben, man prescht auch 46 Jahre nach dem Debütalbum noch in eine einzige Richtung, nämlich voll durch die Wand. "fresh air" ist kein Album mit Ecken und Kanten, es ist ein Album aus Ecken und Kanten. Wer braucht schon Popmusik?

    Reinhören: Auf Soundcloud gibt es momentan eine Vorschau auf das Album, auf TIDAL einen Komplettstream zu hören.

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  9. Samsara Blues Experiment - One with the Universe (Cover)
    "Think about the promises we made!" (One with the Universe)

    Von wegen "Blues"!

    Das Berliner Trio Samsara Blues Experiment feiert im Jahr 2017 sein zehnjähriges Bestehen und veröffentlichte passend dazu, wenn auch wohl unabhängig davon sein viertes Studioalbum "One with the Universe", das erste mit dem 2014 eingeführten Bassisten Hans Eiselt. Die Selbstbeschreibung besagt, die Gruppe spiele "eine Mischung aus Stoner Rock, Psychedelic Blues, indischem Raga und Folkmusik" und liegt damit gar nicht mal völlig daneben.

    Aufgebaut sind die fünf Stücke auf "One with the Universe", wie Pseudonymus "Mr. Omen" richtig feststellte, wie schon das Coverbild quasi wie ein Liebesspiel: Je länger die Spielzeit andauert, desto intensiver wird das Gehörte. Beginnt "Vipassana" noch mit Meeresrauschen und anschwellenden Psychedelia, so wird schon zwei Minuten später früher Hardrock wie ein Teppich ausgebreitet, rauen Gesang eingeschlossen. Von einem Quickie lässt sich bei immerhin zehn vollen Minuten Dauer allein des ersten Stücks freilich nicht sprechen. Um bei der Metapher zu bleiben: Zum Höhepunkt kommt die Band trotzdem immer wieder; und wenn wie in "Glorious Daze" (ein hervorragend drogenumwölkter Titel auch) die Energie bis zum Bersten anschwillt, um sich in einem Crescendo von beachtlicher Dichte zu entladen, dann ist das auf mehr als eine Art schön.

    Den ollen Wortwitz vom Ohrgasmus möchte ich schon aus Stilgründen hier nicht noch weiter abnutzen, aber worauf ich hinaus will, sollte sich aus meinen Schilderungen auch quasi von allein ergeben: Colour Haze, Led Zeppelin, Elvis Presley und die späten Beatles, mehr muss es gar nicht sein.

    Reinhören: Auf Bandcamp.com darf zurzeit nach Herzenslust gestreamt werden.

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  10. The Universe by Ear (Cover)
    "Make it look like an accident!" (Make It Look Like An Accident)

    Schon wieder eines dieser Musikalben ohne einen anständigen Titel! Aber für das Debüt-Vollzeitalbum - nach dem vorab veröffentlichten und dieses Album eröffnenden Stück "Seven Pounds" vom Juli 2016 - mag es noch angehen.

    The Universe by Ear ist ein Schweizer Trio, das von "20 Minuten" als "der nächste Urknall" oder wenigstens als "Prog-Supergroup" bezeichnet wird, was einigermaßen übertrieben ist, denn vorherige Erfahrungen aus einer lokalen Frank-Zappa-Coverband etablieren noch keinen Starstatus. Nichtsdestotrotz schwappte sich die Welle, die The Universe by Ear in Basel zum Schwingen brachten, augenscheinlich bereits bis nach Australien.

    In einer ihrer Selbstbeschreibungen üben die Musiker sich nicht in Zurückhaltung:

    Drei wagemutige Basler Musiker haben sich zusammengefunden, um den Rock dorthin zu führen, wo bislang keiner einen Fuss auf den Boden gesetzt hat: in eine komplexe, farbenfrohe, überraschende, harte, melodiöse Landschaft und in einen Kosmos, in dem improvisierter Freifall neben durchstrukturierter Form existiert.


    Und sie haben damit sogar Recht. Das Klanguniversum bereisen sie tatsächlich hörbar weit: Aus King Crimsons "Larks' Tongues in Aspic" (sämtliche Teile), Stoner- und Spacerock, aber auch den späten Beatles ("Repeat Until Muscle Failure", "Dead End Town"), Jazzrock und Canterbury sowie Desert Rock (noch mal "Dead End Town"), veredelt mit irrwitzigen Instrumentaleskapaden ("Ocean/Clouds/Prism"), kreieren die Schweizer ihr ganz eigenes erstes musikalisches Ausrufezeichen. Der Gesang ist freilich nicht der besonderen Rede wert, stilistisch passend orientiert man sich hier überwiegend an den einschlägigen Krautrockbands, aber es wird ja nicht immer nur gesungen; von Anfang an, schon in der zweiten Hälfte von "Seven Pounds", erfreuen ausgedehnte bass- und schlagzeuglastige Instrumentalpassagen des Hörers Ohren. Mein Album des Jahres scheint gefunden, aber ich lasse mich ja gern überraschen.

    Pseudonyma "Eva Maria" kommentierte auf "20 Minuten":

    Unhörbar sorry. Ist wahrscheinlich therapeutisch für die Musiker und ein Taxitiket zur Einlieferung in die Psychi für alle die es sich antun das hören zu wollen


    Ach, "Eva Maria": dir entgeht was.

    Reinhören: Einen Komplettstream gibt es auf Bandcamp.com, Videos zu einigen Stücken auf YouTube.

Habe ich was vergessen? Natürlich habe ich was vergessen!

2. Kurz und würzig.

  1. The Jesus and Mary Chain - Damage and Joy

    The Jesus and Mary Chain präsentieren zehn Jahre nach ihrer Reformation ein großartiges Garagenrockalbum, das Anhängern von The Velvet Unterground, den Strokes und Sonic Youth ein breites Grinsen auf's Gesicht drückt. Amazon.

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  2. Disperse - Foreword

    Hinter dem unauffälligsten Gesang des Jahres versteckt sich überraschend vertracktester Progressive Metal, für den ein einziger Hördurchlauf geradezu lächerlich wenig ist. Bandcamp.

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  3. At the Drive-In - in•ter a•li•a

    Die Nachfolgeprojekte, darunter die unvergesslichen The Mars Volta und Antemasque, sind offenbar allesamt gescheitert, also machen die Musiker von At the Drive-In weiter mit dem, was sie am besten können: Energiegeladene Rockmusik mit Punk- und Indiecharme, gefeiert von der Fachpresse und auch von mir trotz einschlägiger Werkkenntnisse für überraschend gut befunden. Amazon.

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  4. Nova Collective - The Further Side

    Instrumentaler Symphonic-Prog wie in der guten alten Zeit. Bandcamp.

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  5. Les Discrets - Predateurs

    Sphärische Film-Noir-Musik zweier Franzosen mit Indie-Rock- und Trip-Hop-Hintergrund. Bandcamp.

Das war es schon? Vorerst ja - aber das Jahresende steht ja schon wieder bald bevor und mit ihm die Jahresrückschau, nächstes Mal wieder in alter Pracht. Ich freue mich darauf und ihr solltet das auch.

Bis bald!
Ein intelligenter Mensch ist manchmal gezwungen, sich zu betrinken, um Zeit mit Narren zu verbringen.
(E. Hemingway)
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