Da der erste Teil merklich kürzer als üblich geraten war, blieb für den zweiten natürlich eine Menge Musik übrig. Vorzeitig befasst hatte ich mich seit Juli bereits mit den aktuellen Alben von Ex Eye, OHHMS, Hundredth, Reflections in Cosmo, Igorrr, L'Effondras und The Narcotic Daffodils. Dennoch war das Jahr noch produktiv genug für eine lange Liste an noch unausgesprochenen Empfehlungen.
Nämlich für diese:
1. Lang und breit.
- Bröselmaschine - Indian Camel (Cover)
Bevor Helge Schneider sich dem Klamauk, wie man heute so schön sagt, opferte, war die Profession, mit dem ihn die Menschen wohl am meisten verbanden, die einigermaßen seriöse Musik, für die er heute zu Unrecht vergleichsweise wenig bekannt ist. In den 1970-er Jahren etwa spielte er in der schon namentlich ziemlich cannabisumwölkten - im Wortsinne - Krautrockband Bröselmaschine, zu der er später, zuletzt im Jahr 2005, gelegentlich wieder zurückkehrte.
Die Band Bröselmaschine aus ausgerechnet Duisburg, aus deren Mitte vor allem der Gitarrist Peter Bursch, dessen Lehrbücher zwecks Erlernens des Gitarrenspiels wohl eine gewisse Bekanntheit erlangt haben, sich immer mal wieder auf allerlei Bühnen zu sehen ist, hatte ihr viertes und bis dato letztes Studioalbum "Graublau" 1985 veröffentlicht, seitdem gab es zwar noch manche Konzerte, jedoch keine neuen, allgemein erhältlichen Stücke mehr. Mit "Indian Camel" wurde dieser Umstand nun korrigiert: 32 Jahre nach dem Vorgängeralbum hat sich eine siebenköpfige Besetzung, darunter die erst 2014 eingestiegene Sängerin Liz Blue, mit drei Gästen, zu denen auch Helge Schneider am Saxophon statt, wie einst, als Organist gehört, zusammengefunden, um einen vertonten Haschtag - nicht: hashtag - aufzunehmen, der diese Rückschau angenehm entspannt einleiten darf.
Dass mit "Children of the Revolution" ein Lied von T.Rex, mit denen Bröselmaschine vor Jahrzehnten bereits gemeinsam aufgetreten waren, als Coverversion auf "Indian Camel" zu finden ist und bei der Gelegenheit als prima Rockmusikstück auch beredt Zeugnis über die Wandlungsfähigkeit der Gruppe ablegt, ändert nichts an der Eigentümlichkeit, die "Indian Camel" umgibt. Im Titelstück wird wie auch an anderer Stelle - passend zum Namen - Indisches mit Weltmusik und Blues mit akustischer Gitarre verbunden. Irgendwo im Web ist von einem "hypnotischen Trip" die Rede, von einer "Nummer für die Geschichtsbücher" gar, und ich mag angesichts mancher klanglicher Grausamkeit des Jahres 2017 da auch gar nicht widersprechen.
Reinhören: Schnipsel gibt es auf Amazon.de, den Rest auf TIDAL.
------------------------------------------------------------- - Ulver - The Assassination of Julius Caesar (Cover)
"Sigh, my heart, but do not break" (Coming Home)
Über den altrömischen Feld- und Kriegsherrn Julius Cäsar, anfangs bestechender, schließlich erstochener Herrscher des Römischen Reiches kurz vor der sog. "Zeitenwende", ist manches gesichert bekannt, manches jedoch romantisierte Erfindung. Der Romantisierung selten verdächtigt wird das norwegische Sextett Ulver, das seinen anfänglichen typisch skandinavischen Black Metal schon bald nach seiner Gründung diversifizierte. Sein diesjähriges Studioalbum "The Assassination of Julius Caesar", anderswo als das "einzige relevante Depeche-Mode-Album" des Jahres bezeichnet, schafft das Kunststück, gleichzeitig für Metal- und Pop-Blogs von Interesse zu sein, wofür die Musik nicht einmal unbedingt etwas kann.
Tatsächlich wird hier klanglich tief in die New-/Dark-Wave-Kiste gegriffen. Den gezogenen Vergleich teile ich persönlich nicht, denn wo Depeche Mode zäh wabern, haben es Ulver mehr mit düsterem Dröhnen. In einer einfacheren Welt wäre dies hier vermutlich schlicht "elektronische Tanzmusik", aber dieses Etikett ist seit der Discowelle untauglich geworden. Ich höre die jüngste, düsterste Inkarnation von Crippled Black Phoenix ("So Falls The World") ebenso wie - in den freiförmigeren Momenten - Faust und Neu! ("Rolling Stone"). Textlich ist die Zeit der Cäsaren nur ein Teil des Umfassten, es geht um mancherlei prominenten Tod der vergangenen Jahrzehnte und Jahrtausende, darunter auch die Morde der "Family" des vor kurzem verstorbenen Charles Manson ("1969"). Anspruch darf es ja immer auch noch sein.
Natürlich täuscht das nicht darüber hinweg, dass Ulver hier eine Kiste entstauben, die man meist lieber geschlossen lässt, nämlich die der musikalischen 80-er Jahre, aber sie tun es mit Stil und ohne Käsekeyboards, was allein schon eine Erwähnung wert wäre; dass Ulver es insgesamt schaffen, dass mir ein Album, dessen Inhalt anderswo schlicht als "Synthie-Pop" beschrieben wird, gut gefällt, tut ein Übriges. Das Beste allerdings bleibt, dass nicht abzusehen ist, wie das Nachfolgealbum klingen wird, denn Ulver bleiben ungern stehen. Ich jedenfalls empfehle ein kurzes Innehalten zwecks Genusses dieses Albums.
Reinhören: Ulver streamen auf Bandcamp.com, aber auch Amazon.de ermöglicht kurzes Anhören und Kauf.
------------------------------------------------------------- - Gnod - Just Say No To The Psycho Right-Wing Capitalist Fascist Industrial Death Machine (Cover)
Gelegentlich schlendere ich durch Geschäfte, die tatsächlich Filialen besitzen, also "offline" existieren, und schaue dort die einschlägigen Vinylangebote an. Manchmal begegne ich interessanten Neuauflagen sehr geschätzter Altwerke, selten aber auch mir bis dahin völlig unbekannte Alben, deren Aufmachung allein mich neugierig macht. So ging es mir auch bei "Just Say No To The Psycho Right-Wing Capitalist Fascist Industrial Death Machine" von Gnod: Würde das Enthaltene wirklich so liebenswürdig schlecht sein wie es den Anschein hat?
Überraschend stellt sich heraus: Das ist tatsächlich der Fall. Gnod - Debütalbum: "Ingnodwetrust", Spaß an der Sache bringen die Musiker also mit - ist eine britische Band, der trotz ihrer Selbstbeschreibung als "Psych-Electronic-Combo" und ihrer Herkunft von manchen Rezensenten das Etikett "Krautrock" angeheftet wird, was über das Prinzip der Etikettierung selbst manches aussagt. Musikalisch stecken außer Faust und Can hier nämlich durchaus andere Überraschungen drin: Trotz beachtlichen Wortreichtums ist das Gebotene im Prinzip prima Postpunk.
Man möge sich von dieser schlichten Beschreibung nicht irreleiten lassen, denn Gnod, eine "Band unheiliger Kakophonie" (Benjamin Bland, "Drowned in Sound") geben in der Tat mehr Musik preis als die Genrekollegen Sleaford Mods, deren karges Tun regelmäßigen Lesern bereits im Juli begegnet sein könnte, und machen auch vor einem Genreübergriff in den Industrialbereich nicht Halt. Thematisch wie musikalisch ist "Just Say No To The Psycho Right-Wing Capitalist Fascist Industrial Death Machine" ein Album der totalen Verweigerung, griffige Mitbrüll-Protestmusik ist hier nicht zu erwarten. Gnod begegnen ihrer feindlichen Umwelt stattdessen mit fünf teils langen Stücken ("Stick In the Wheel" ist über 12 Minuten lang) in recht unterschiedlicher Manier: "Bodies For Money" beginnt mit jaulender Gitarre und klassischem Garagen-Punk, geht dann über in einen beinahe jazzigen Mittelteil, in dem der Refrain ungeduldig klingend gesprochen wird, eskaliert schließlich aber anschwellend in ein fabelhaftes Instrumentenspektakel. Während das zehnminütige "People" auch mit seinem erneut total durchdrehenden Endteil eher im New Artrock zu Hause ist, bewegen sich "Paper Error" und "Real Man" augenscheinlich im schlichten Punkrock, fallen aber auf den zweiten Blick beziehungsweise Hör dadurch auf, dass die Band neben dem, was vielleicht anderswo Geschrammel hieße, eher einen psychedelisch-repetitiven Hardrock spielt, der in der Klischeepunkkneipe nicht verstanden würde. Sänger Neil Francis drängt sich niemals in den Vordergrund, was eine angenehme Abwechslung zu manch anderer Brüllpunkband, etwa aus Düsseldorf, darstellt.
"Stick In the Wheel" schließlich vermengt vor allem in den ersten drei Minuten Postpunk mit Industrial, um dann plötzlich einen instrumentalen, "krautigen" RIO/Avant-Teil einzuläuten, der so schnell verschwunden wie gekommen ist, um Platz für acht Minuten ausgedehnten Elektrojazzes zu machen, der (vielleicht unbewusst) rhythmisch Talk Talks einmaliges "Desire" ebenso zitiert wie lateinamerikanische Tänze. Ein Stock im Rad der Genrefetischisten? Möglich wär's. Einfach "Nein" sagen? Ich sage "Ja" - jedenfalls zu Gnod.
Reinhören: Stream und Kauf stellt die Band auf Bandcamp.com zur Verfügung, auf YouTube kann man einen Auszug aus einem ihrer Liveauftritte ansehen.
------------------------------------------------------------- - Circle - Terminal (Cover)
Die wuselige Gruppe Circle ist jedenfalls mir zuerst Ende 2011 begegnet. Die umtriebige finnische Band überrascht nach wie vor mit einer enormen Veröffentlichungsfrequenz: Seit der Gründung im Jahr 1991 erschien eine Vielzahl an EPs, Live- und Studioalben, man benannte sich für die Dauer eines Albums (nämlich "Frontier" von 2013) in Falcon um und wieder zurück. "Terminal" ist der erstaunlich lange erwartete Nachfolger des 2015 veröffentlichten Albums "Phraraoh Overlord" und nach konservativer Schätzung - also abzüglich des teilweise aus älteren Singles zusammengesetzten "Kollekt" - das 31. Studioalbum der Band.
Momentan hat sie sieben Mitglieder, nach wie vor an Bord ist Gründer, Bassist und Sänger Jussi Lehtisalo, der sich neben Circle als Mitglied oder wenigstens Gast noch verschiedene andere Bands (darunter die beachtlichen Kirvasto, Grumbling Fur und Ektroverde) hielt oder noch hält. Andere zeitgenössische Musiker bringen es nicht einmal auf eine einzige, sind aber bekannter und beliebter. Kreativität wird nicht mehr belohnt. Das ist schade für Circle, denn so entgeht ihnen eine Menge verdienter Aufmerksamkeit.
Natürlich gibt es auf "Terminal", man möge nicht von plötzlichem Identitätsverlust ausgehen, gewohnte Circle-Kost, nämlich vorzüglichen Stoner- und Spacerock, der auch diesmal wieder nicht klingt wie etwas, was man schon hundertmal gehört hat. Intensive, hypnotisch-repetitive Rhythmen mit ebenso intensivem Gesang (und Geschrei) des unverändert großartigen Mika Rättö dominieren die knappe Dreiviertelstunde Laufzeit, durchsetzt mit spannenden Einfällen; in "Rakkautta al dente" etwa scheint auch mal folkiger Mittelaltermetal durch.
Eigentlich ist auf "Terminal" also alles wie immer - und es ist wie immer prima.
Reinhören: Auf Amazon.de kann man in "Terminal" hinein- und es auf TIDAL vollständig hören.
------------------------------------------------------------- - Bask - Ramble Beyond (Cover)
Wir wechseln nun wieder das Land und mit ihm den Kontinent: Aus Nordamerika, nämlich North Carolina, stammt das Quartett Bask, was auf Deutsch entweder "Sonnen" und "Aalen" oder gar nichts bedeutet, weil das Übersetzen von Eigennamen ja immer so eine Sache ist. Erfahrene Sprachbenutzer wissen, dass mit so Sachen besser nicht leichtfertig verfahren werden sollte.
Auf "Ramble Beyond" gibt es in sechs Stücken, naturgemäß allesamt nicht gerade in Supermarktradioformat, donnernde Musik zu hören, die weitgehend als einigermaßen psychedelischer Hard-/Stoner-Rock ("unverfälschter Rock" schreibt Nadine Schmidt auf "Metal.de") zu identifizieren ist, wenngleich "The Lonesome Sound" passenderweise eher als allerdings recht energiereicher Bluesrock durchgehen mag. Ab Beginn ("Asleep in the Orchard") vernehme ich erfreut, dass der Gesang hier nicht unnötig dominant gemischt ist, sondern sich stattdessen sozusagen als stimmliche Leadgitarre in das Gesamtkonzept einfügt. Es herrschen melodiefreudige Gitarrenspiele und Rhythmus, als seien Post- und Hardrock eine Allianz eingegangen, die jedenfalls ich so reif und kantenlos auch noch nie wahrgenommen habe. Ich mag das.
Andreas Schiffmann notierte zu "Ramble Beyond":"Ramble Beyond" ist (...) ein in sich stimmiges, nachhaltiges und episches, vor allem aber sehr eigenständiges Werk im Kontext des andauernden Vintage-Rock-Treibens, irgendwo zwischen Prog, Post und Weltraum, falls das Sinn ergibt.
Das kann ich so stehen lassen.
Reinhören: Bandcamp.com stellt Stream und Kauf zur Verfügung.
------------------------------------------------------------- - The Electric Family - Terra Circus (Cover)
The Electric Family ist ein 1996 von Tom Redecker gegründetes kommunenähnliches - daher wohl der Name - Musikprojekt, an dem sich immer mal wieder verschiedene Musiker aus unterschiedlichstem Umfeld, darunter die mittlerweile verstorbenen Volker "Mist" Kahrs (Grobschnitt) und Hagen Liebing (unter anderem Die Ärzte), beteiligt haben. "Terra Circus" ist nach einer Veröffentlichungspause von etwa zehn Jahren das fünfte Studioalbum der Band, die neben ihren Eigenkompositionen auch gelegentlich Lieder anderer Künstler neu einspielen. Auf "Terra Circus" sind es zwei - aber fangen wir vorn an.
"Vorn", das ist in diesem Fall das eröffnende "Movin'", das eingängiger, aber sehr gefälliger Mitwippbluesrock ist. Fast wäre es radiotauglich, wäre das Stück nicht doppelt so lang wie Radiosender es heutzutage zulassen. Der Gesang wirkt auf mich etwas überpathetisch, aber daran soll es nicht scheitern. Es folgt die erste Coverversion: "Lucrecia, My Reflection" ist genau das, wovon der musikalisch erfahrene Leser sofort beim Lesen ausgeht, wenn auch mehr an Elvis Presley oder dem Blues-/Country-Rock von Bela B als an den Sisters of Mercy orientiert. Anders Becker entlockt der Elektronik manches Space-Zirpen, ein ausgedehntes Gitarrensolo bestimmt die zweite Hälfte des Stücks.
Auch "When Dizzyness Comes Around" lässt sich die Vorliebe der Musiker für Artverwandtes deutlich anmerken: Velvet Undergrounds oft vergessenes "Squeeze", die Soloalben von Bela B und die ersten zwei Alben von Roxy Music existieren hier prächtig nebeneinander. Das folgende "Mary, Mary, so Contrary" ist ebenfalls eine Coverversion eines Klassikers, allerdings eines noch älteren, denn das Original erschien auf dem offiziellen Debütalbum "Monster Movie" der Krautrockpioniere Can. Die verrückte Psychedelik dieses Originals weicht in der Version von The Electric Family einer sommerlich-leichten Stimmung, was zum übrigen Album fraglos gut passt. Eigenständigkeit geht eben auch mit Coverversionen.
"Landmark Visions II" ist sozusagen die Fortsetzung von "Landmark Visions" vom 2002 aufgenommenen "Ice Cream Phoenix", diesmal jedoch nicht ganz so lang. Die bei The Electric Family allgegenwärtige Gitarre soliert, leider nur sehr kurz, hier angenehm disharmonisch. Apropos "sehr kurz": "Santuario" ist ein nicht einmal drei Minuten langes elektronisches Zwischenspiel, das ungefähr so klingt, wie man sich indische Housemusik vorstellen würde, wenn man - wie der Schreiber dieser Zeilen - Housemusik nicht so gut kennt. "Terra Circus" endet schließlich mit "Name the Dreamboat", das abermals schön ungeduldiger Gitarrenbluesrock ist, aber sich eines Postpunkeinschlags nicht erwehren kann. Statt Gesangs wird hier gesprochen - nicht die einzige Gemeinsamkeit mit den unvergleichlichen The Fall und allein schon ein Grund, in "Terra Circus" einmal bewusst hineinzuhören.
Reinhören: Und zwar entweder auf Amazon.de oder auf TIDAL.
------------------------------------------------------------- - The Hirsch Effekt - Eskapist (Cover)
"Lustlos, achtlos / fällt ihm denn nicht mal was Neues ein?" (Xenophotopia)
Das bedauerlicherweise aus Hannover stammende Trio The Hirsch Effekt, für das sich bezahlte Schreibschergen irgendwann einmal das Nonsensgenre "Artcore" überlegt haben, hat mich mit jedem seiner ersten drei Alben in doppeltem Sinne vom Stuhl gehauen. Feinsinn ist langweilig.
Nach dem Abschluss der "Holon"-Trilogie im Jahr 2015 weigerte sich die umbesetzte Gruppe, sich völlig neu aufzustellen. Warum auch? "Eskapist", der Titel deutet es an, ist eine Flucht nach vorn, eine Verbindung zwischen den orchestralen Teilen der ersten und dem wilden Brett der letzten "Holon"-Platte. Die Titel sind so gewohnt kryptisch wie die Melodien, surreale Grafik ist zu sehen und zu hören.
Es wird also dem Djent, dem technischen Metal, dem Math-Wasauchimmer gefrönt. Gesang, Geschrei, Growls wechseln einander ab, ohne unabsichtlich peinlich zu sein. Die Stücke - auch das kennt man von früher gehen zum Teil ineinander über. Von den zwölf enthaltenen Kleinoden greife ich einfach mal quasi willkürlich sechs heraus, die trotzdem beispielhaft für die ganze Band stehen: Da wäre "Xenophotopia", das textlich und eben auch melodisch immer noch an "Holon" anknüpft; das 42 Sekunden lange Artpop-Instrumental "Coda", das "Natans" und "Berceuse" verbindet; das fast zweiminütige "Tardigrada", das gegen Ende vermutlich absichtlich wie eine leiernde Schallplatte klingt; das Streicherstück "Nocturne", das als Einleitung "Aldebaran" voransteht; das Artrocklied "Inukshuk" mit dann doch wieder typisch bretterndem Bandsound zum Ende; endlich "Lysios", das 14:14 Minuten feinsten Metals bietet, von den Musikern allerdings mit steigender Laufzeit zu einem wahren RIO-Feuerwerk hochgepeitscht wird. Die Lust am Lärm ist eine reiche, soll aber keineswegs verbergen, dass das "Eskapist" beherrschende Thema die Fassungslosigkeit über eine Gesellschaft, die nur mehr existiert statt lebt, ist: "Warum kommt es mir so vor, als ob die halbe Welt einfach Schafe zählt?" ("Berceuse"), was die richtige Frage zum immerwährend richtigen Zeitpunkt ist und bleibt.
Zum Abschluss von "Eskapist" verblüffen The Hirsch Effekt nochmals mit einer ihrer trotzdem typisch dystopischen Wunderlichkeiten, mit denen ihre Studioalben, stets als Gesamtwerk konzipiert, meist enden: "Acharej" ist eher im New Age als in der wilden Gitarrenmusik zu Hause, der sauber, also ungebrüllt, intonierte Text ist genau das Erwartete, was auch immer man erwartet, wenn man "Acharej" liest, von The Hirsch Effekt aber bisher nichts kannte: "Kein Zurück mehr (...) ich bin der Einzige hier." Ob der Nachfolger von "Eskapist" wohl daran anknüpfen wird?
Die Vinylversion von "Eskapist" kommt mit einer CD-Beilage und aufgedruckten Texten, was gleich zweimal praktisch ist: Man muss die LP nicht selbst digitalisieren und kann, sofern man nicht gerade in feiner Gesellschaft ist, auch ungestraft mitbrüllen. Immer nur filigran zu sein ist nicht befreiend.
Reinhören: Angemessen deprimierende Videos zu "Lifnej", "Berceuse und "Inukshuk" hat die Band selbst auf YouTube zur Verfügung gestellt oder stellen lassen oder so.
------------------------------------------------------------- - Katie Von Schleicher - Shitty Hits (Cover)
Katie Von Schleicher - mit Schmidtchen Schleicher, bekannt aus der Folklore, vermutlich weder verwandt noch verschwägert - ist eine junge US-amerikanische Künstlerin, die seit 2015 - ihr eigenproduziertes eigentliches Debüt "Silent Days" von 2012 einmal außer Acht gelassen - alljährlich einen Tonträger befüllt mit dunkelster Popmusik, von der "Spex" etwas übertrieben "Rumpelkammerpop" genannt, veröffentlicht beziehungsweise veröffentlichen lässt. Es mag die Echtheit von "Shitty Hits" augenscheinlich beschädigen, dass es, anders als seine beiden Vorgänger, nicht (oder noch nicht) auf Audiokassette erhältlich ist, denn eigentlich ist so eine Kassette für ein Album wie "Shitty Hits" die ideale Darreichungsform.
Auf "Shitty Hits" ist entgegen des Titels weder etwas scheiße noch ein wirklich radiotauglicher Hit, stattdessen wird über die Dauer von elf Stücken eine drückende, aber doch intime Atmosphäre aufgebaut, mal bedrohlich knarzend ("Nothing"), mal verletzlich ("Mary"); selbst das tatsächlich beatlesque "Life's a Lie" - "Portishead treffen auf die Beatles" untertitelte man beim "Guardian" dieses Album und wurde damit eigentlich niemandem gerecht - besitzt eine klangliche Sperrigkeit, die mit Worten zu beschreiben nicht eben eine einfach zu lösende Aufgabe ist. Zola Jesus - die hatte ich hier schon mal - würde sich in meinem Kopf gern als Vergleich bewerben, also verweise ich erst einmal auf sie.
Die Künstlerin fasst auf ihrer Bandcamp-Seite die enthaltene Musik derzeit so zusammen:Die Lieder sind schrecklich und müssen partout so laut sein.
Man kann sie aber auch leise hören.
Reinhören: Naja, Bandcamp halt.
------------------------------------------------------------- - Nick Prol & The Proletarians - Loon Attic (Cover)
Bei Nick Prol schreiben sich die Namenswitze sozusagen von allein, deswegen macht er gleich selbst einen: Als selbstbenannter "Lärmmacher" steht er dem Quartett The Proletarians vor, das neben ihm aus zwei Dritteln des Experimental-Rock-Trios The Mercury Tree (das dritte Drittel, Oliver Campbell, ist auf "Loon Attic" allerdings als Gast zu hören) sowie Dave Newhouse von den Muffins besteht. Er selbst, Nick Prol, hat wohl kein reiches Bandportfolio vorzuweisen, das aber auch nicht nötig: "Loon Attic" wurde von ihm ursprünglich allein aufgenommen, die Proletarians wurden erst für die Neuaufnahme zwecks Veröffentlichung ins Leben gerufen.
Als Musik, die denen gefällt, die "Loon Attic" mögen, empfiehlt Bandcamp.com außer den vermutlich wenig überraschenden The Mercury Tree auch Bent Knee und Aquaserge. Ich selbst - beim Versuch, die unglaublich vielseitige Musik auf "Loon Attic" zu ordnen - entdecke Cheer-Accident, Utopianisti, Primus, Henry Cow und Caravan; will sagen: schlicht ist nicht. Jazz-Artrock, Canterbury ("8th Wonder"), Hardrock ("Nameless") und nicht auf bloßes Ufftata zu reduzierende Zirkusmusik überraschen in jedem Takt. Zu den weiteren Gastmusikern auf "Loon Attic" zählen unter anderem Dave Willey (Hamster Theatre, Thinking Plague), der in "8th Wonder" diverse Instrumente bedient, und Thymme Jones (Cheer-Accident; Schlagzeug, Trompete und Moog in "Shiny and Round"), was dann auch wieder großartig passt.
Was man an "Loon Attic" offensichtlicherweise kritisieren könnte, wenn man das denn möchte, ist, dass statt weniger umfangreicher lieber viele kurze Stücke enthalten sind: Die insgesamt 23 Lieder sind mit nur zwei Ausnahmen jeweils (oft deutlich) unter vier Minuten lang. Umso erfrischender ist es zu hören, was die Musiker aus der kurzen Spielzeit herausholen können. Das Verständnis von Musik als Komik ist in den letzten Jahrzehnten der Professionalisierung vieler Genres leider ein wenig abhandengekommen. Nick Prol trägt seinen Teil dazu bei, dass der Canterbury-Stil (cf. Matching Mole) mehr ist als eine bloße klangliche Einsortierung: "Loon Attic" ist - im einfachen Wortsinne - ein komisches Album. Prima!
Reinhören: Anscheinend werden Interessierte derzeit nur auf Bandcamp.com fündig.
------------------------------------------------------------- - Black Country Communion - BCCIV (Cover)
"Sometimes quick and sometimes slow" (The Crow)
Zurück zu etwas erdigerer Musik.
Von 2009 bis Anfang 2013 existierte eine Hardrockband namens Black Country Communion, die mit Glenn Hughes (vorher bei Deep Purple und Black Sabbath), Jason Bonham (unter anderem bei UFO, Foreigner und Led Zeppelin), Derek Sherinian (Dream Theater) und dem Bluesrock-Solisten Joe Bonamassa das abgenutzte Etikett "Supergroup" trotzdem nicht zu Unrecht trug. Nachdem Black Country Communion sich infolge des Soloerfolges von Joe Bonamassa nach ihrem dritten Studioalbum "Afterglow" vorübergehend getrennt hatten, das Nachfolgeprojekt California Breed jedoch schnell ein Ende gefunden hatte, dauerte es nur wenige Monate, bevor eine erneute Zusammenarbeit der vier Musiker für das Jahr 2017 bekannt gegeben wurde. Das Ergebnis heißt schlicht "BCCIV" (über den Namen müssen hier keine weiteren Worte fallen) und ist ein Hören durchaus wert.
Dass die Beteiligten sich das Recht auf eine Inszenierung als das, was man im Schnodderrock "Poser" nennt, längst verdient haben, wissen sie und lassen dieser Inszenierung mit großen, ausladenden musikalischen Gesten ("The Cove") freien Lauf. Der Blues- und Folk-Anteil ist gering, krachender Hardrock ("Sway") überwiegt. Das soll natürlich nicht heißen, dass Joe Bonamassa nicht an den Liedern mitgewirkt hätte: In seinem passend betitelten "The Last Song for My Resting Place", das so klingt, wie es heißt, ist sogar eine Fiddle zu hören. Der Mann versteht sein Handwerk und bleibt prägnant: "BCCIV" ist mehr Deep Purple als AC/DC und das ist, wie ich einfach mal annehmen möchte, auch sein Verdienst.
"BCCIV" ist ein erfreuliches Album, die Wiederkehr von Black Country Communion erfolgte ohne erkennbaren Qualitätsverlust. Warum andere zeitgenössische Musikgruppen das nicht auch schaffen, weiß ich nicht. Ich könnte mich darüber gesondert aufregen, aber ich habe mir fest vorgenommen, über Musikalben, die nicht gut sind, im hier gegebenen Rahmen keine weiteren Zeilen zu verschwenden, weshalb ich das jetzt auch einfach lasse. Keineswegs lassen sollte jedoch jeder Leser ein Reinhören in "BCCIV".
Reinhören: Wer TIDAL-Abonnent ist, der wird dort fündig, ansonsten gibt es Amazon.de.
------------------------------------------------------------- - Boris - Dear (Cover)
"Nobody wants to pick up that nostalgia" (Memento Mori)
Boris sind zurück und tragen ihre Drones aus limitierten Kleinstauflagen (siehe "asia") mit ihrem erst 22. Studioalbum "Dear" wieder in die Masse, sofern man bei der Zielgruppe, die hier bedient wird, überhaupt von "Masse" sprechen sollte und nicht von Klasse.
Von Zugänglichkeit kann weiterhin keine Rede sein, das überlassen die drei Japaner dann doch ihren Alter Egos, die gelegentlich zumindest gefällige Standard-Rockalben veröffentlichen. Beim Hören von "Dear" derweil fühle ich mich immer wieder an das hörenswerte "Soused" von Sunn O))) erinnert, denn hier treffen Gitarrenerdwälle auf entrückten, wenn auch merklich weniger exaltierten Gesang als ihn Scott Walker auf vorgenannter Scheibe zum Besten gab: mal geflüstert, mal gerufen, aber immer hallend, denn Hall ist gut.
Keine Zeit zum Ausruhen: Es brodelt, poltert und dröhnt, von irgendwo zerreißt ein Schlagzeug die Augenblicke. Rockmusik? Unsinn: "DEADSONG" ist ein Lied, aber was für eines! Wie ein auf halber Geschwindigkeit abgespieltes, leierndes Tonband, das absichtlich neu eingespielt wurde, ist dieses Stück angenehm verwirrend. Mit dem unvermittelt einsetzenden "Absolutego" wird das Ohr desjenigen, der weniger Experimente gewohnt ist, mit einer doch recht gut abgehenden Fassung einer Lenny-Kravitz-trifft-Rammstein-Fiktion (im Internet werden Alice in Chains genannt und damit hat das Internet völlig recht) vorübergehend zurückgewonnen, bis es schließlich merklich an Geschwindigkeit verliert und in Schreien über schleppendem Rhythmus ausklingt. Die Abwechslung zwischen Brummen mit Gesang (großartig auch: "Kagero"), Art- ("Biotope") und avantgardesquem Noiserock wirkt dabei nicht einmal zerrissen, sondern um so stimmiger.
"Easy Listening"? Bei Liedlängen zwischen vierdreiviertel ("Memento Mori") und fast 12 ("Dystopia - Vanishing Point") Minuten ist davon nicht auszugehen. Wo Boris draufsteht, ist, pardon!, Boris meist auch drin - auch 2017 wirkt das noch besser als jedes Qualitätssiegel; jedenfalls, so lange es das Qualitätssiegel "ohne Phil Collins" noch nicht gibt. Ein durchweg schlechtes Album von Boris existiert nicht. Isso.
Reinhören: Wer bis hierhin durchgehalten hat, der ahnt, was kommt - ein Link zu TIDAL und ein Link zu Amazon.de nämlich.
------------------------------------------------------------- - Lunatic Soul - Fractured (Cover)
"And the broken hearts will not break through my mind" (Battlefield)
Wenn schlechte Musiker nicht ausgelastet sind, weihen sie Möbelhäuser ein oder fangen die Schauspielerei an. Wenn hingegen gute Musiker nicht ausgelastet sind, rufen sie neue Musikprojekte ins Leben. Mariusz Duda, Sänger und Bassist der polnischen Progressive-Rock-Band Riverside, die erst 2016 das seltsame Album "Eye of the Soundscape" veröffentlicht hat, gehört zweifellos letzterer Gruppe an. Sein hauptsächliches Nebenprojekt heißt Lunatic Soul.
Falls man annimmt, dass nicht alles, was so Musiker tun, in einer frei erfundenen Gedankenwelt stattfindet, so ist Lunatic Soul ein wesentlich intimeres Projekt als Riverside. Dass letzterer Band 2016 der Gitarrist Piotr Grudziński ebenso wie in den Jahren zuvor diverse Menschen aus Mariusz Dudas Umfeld mittels Sterbens abhandengekommen war, ist laut verschiedenen Interviews einer der Gründe, warum das Konzeptalbum "Fractured", das, passend zum Titel, größtenteils ziemlich zerbrechlich ("Anymore") klingt, so eine nachdenkliche Stimmung verbreitet.
Die Ohren - die Seele sowieso - werden auf "Fractured" mit einem merkwürdigen Jazz-Elektro-Dance-Rock, der Musikhörer, die schon etwas länger dabei sind, an die frühen 1990er Jahre erinnert, konfrontiert, der oft nach The Notwist und Depeche Mode, manchmal (etwa im Titelstück) auch nach Eloy klingt. Als Quintessenz des Albums aber mache ich "A Thousand Shards of Heaven" aus, das nicht nur mit traurigen Streichern, sondern auch mit einem Text überzeugt, der schon beim Lesen Fragiles zeigt:You can say that I am yearning
for something that's already gone
but I am not a prisoner
Uff.
Reinhören: Warum nicht mal Amazon.de oder TIDAL? Zum ganz guten "Anymore" (YouTube), zum Titelstück und zu "Moving On" (YouTube) gibt es im Übrigen auch offiziell scheinende Musikvideos.
------------------------------------------------------------- - The Dream Syndicate - How Did I Find Myself Here? (Cover)
Im Jahr 1963 gründete der US-amerikanische Komponist und Musiker La Monte Young das Theatre of Eternal Music, ein Kollektiv zur Umsetzung minimalistischer Kompositionen, in deren Fokus Drones standen. Zu den frühen Mitgliedern des Ensembles gehörten die späteren Velvet-Underground-Musiker John Cale, Angus MacLise und Sterling Morrison ebenso wie Terry Riley. Das Theatre of Eternal Music löste sich erst 2003 auf, war bis dahin aber längst auch unter dem Namen The Dream Syndicate bekannt geworden, was vermutlich mit der Serie von frühen Musikaufnahmen namens "Inside the Dream Syndicate" zu tun hat.
1981 stellte der aufstrebende Gitarrist Steve Wynn gemeinsam mit seiner damaligen musikalischen Weggefährtin Kendra Smith eine Band zusammen, die sich infolge einer Anregung des Schlagzeugers Dennis Duck eben The Dream Syndicate nannte. Das ist in so Tauschbörsen manchmal etwas verwirrend: John Cale spielt hier nicht mit. Bassistin Kendra Smith sang auf dem hörbar von Neil Young und natürlich The Velvet Underground beeinflussten Debütalbum, mit dem The Dream Syndicate den "Paisley Underground", eine Art musikalischer Szene in Los Angeles, die den Psychedelic Rock, den Pop und vor allem die Velvet Underground der 1960er Jahre kultisch verehrte, sozusagen unabsichtlich aus der Taufe hoben, das famose "Too Little, Too Late" und verließ die Band bereits 1983, der Rest der Gruppe blieb nach Personalwechsel bis 1989 aktiv, um dann 2012 von Steve Wynn wieder ins Leben gerufen zu werden. Aus der letzten Besetzung von 1989 übrig geblieben sind neben ihm Dennis Duck und der 1984 eingestiegene Bassist Mark Walton, neu hinzugekommen ist Gitarrist Jason Victor.
Im Februar 2017 wurde das erste neue Studioalbum von The Dream Syndicate seit 1988 angekündigt, es erschien schließlich im September unter dem Namen "How Did I Find Myself Here?". Verlernt haben sie nichts, das Quartett schafft es noch immer, die Musik von damals nicht nur zu konservieren, sondern aufzubereiten: Die späten The Velvet Underground, später bekanntlich vorzüglich imitiert von den Dandy Warhols, standen hier hörbar Pate, im Titelstück klingt auch mal Pink Floyd an. Im Oktober kürte ich das Lied "80 West" zur Montagsmusik und hatte mir dabei schon etwas gedacht, denn dessen Kontrast zwischen bassgetrieben schepperndem Indierock und den guten, alten Drones bringt "How Did I Find Myself Here?" komprimiert auf den Punkt. "Like Mary" ist tatsächlich noch älter, es entsprang frühen Bandproben und wurde erst nach über 30 Jahren für dieses Album erstmals offiziell aufgenommen.
Heimlich ist auch Kendra Smith wieder zurück: Das letzte Lied "Kendra's Dream" wurde nicht nur von ihr (laut Internet als Bewusstseinsstrom) verfasst, sondern wird auch von ihr vorgetragen. Dass mich das Lied in der ersten Hälfte auffallend an "All Tomorrow's Parties" erinnert, mag zum Teil an Kendra Smiths tiefer gewordener Stimme liegen, vor allem aber wahrscheinlich an der musikalischen Darbietung selbst, die nach einem ziemlich rockigen Album noch trippiger, noch mehr am Funk orientiert ist.
Ich habe "How Did I Find Myself Here?" einem Härtetest unterzogen, indem ich es ausgerechnet auf dem Weg nach Hannover erstmals hörte. Ich hatte beim Aussteigen immer noch gute Laune, das Album hat den Test also bestanden. Endlich mal wieder ein würdiger Vertreter für mein bevorzugtes Topalbenattribut "Geile Scheibe" und eventuell durchaus mein Album des Jahres 2017.
Reinhören: Die Plattenfirma selbst hat das komplette Album auf YouTube hochgeladen, woraus ich folgere, dass es dort komplett zu hören empfohlen ist.
------------------------------------------------------------- - Pingvinorkestern - Look - no hands! (Cover)
"Close / close / close the door!" (Happy)
Auch beim Pingvinorkestern haben wir es - das ist tatsächlich nur Zufall, schschwör - mit einer Band zu tun, die sich zumindest geringfügig mit der Modernisierung alter Meister befasst: Das im Internet als "exzentrisch" bekannte Penguin Cafe Orchestra, das ursprünglich von 1972 bis 1997 existierte und sich nach dem Tod ihres Gründers Simon Jeffes in verschiedenen Besetzungen verschiedene Namen gab, inspirierte das personell unabhängige schwedische Quintett zu seinem Namen.
An der Besetzung fällt auf, dass alle fünf Musiker sowohl slagverk als auch ukulele spielen. Popmusik sieht zum Glück ganz anders aus. Laut Selbstbeschreibung spielt das Pingvinorkestern "poporientierte postmoderne Kammermusik mit humoristischen Untertönen", was sich irgendwie nach dem Original anhört, aber diese Band hier ist anders, erinnert sie mich doch viel mehr an die gloriose Kammerrockband broken.heart.collector. Man möge allerdings auch hier darauf verzichten, mit dem Genreetikettendrucker unvorsichtig zu hantieren: Abwechslung muss sein!
Dem Penguin Cafe Orchestra nicht unähnlich sind immerhin das Titelstück und "Stora moerdarbacken", was immer das heißen mag: RIO und instrumentale Klezmermusik finden hier wie selbstverständlich zueinander. Bei "Stay", "Free Fall" und "Save Me" handelt es sich um beachtlichen Artpop mit Gesang, wobei insbesondere letzteres Stück mit nach meinem unmaßgeblichen Geschmack wunderschönem Chorgesang überzeugt. Am kraftvollen und stilistisch überraschenden Rockstück "Happy" kann ich nur kritisieren, dass es mit unter zwei Minuten deutlich zu kurz ist.
Folk- und Countryfreunde werden womöglich mit "Walk Slowly" und "Honk" höchst zufrieden sein, unsereins kommt zu einem anderen Zeitpunkt wieder herein: "If You're a Dreamer, Come In" klingt mal wieder so, wie es heißt: Die Band baut mit reichlich Perkussion eine psychedelische, nahezu pinkfloydesque Wunderwelt auf, aus der man am Ende mit einem Türklingeln aufgeschreckt wird. Humor? Oh ja.
Reinhören: Stream und Kauf gibt es via Bandcamp.com.
------------------------------------------------------------- - Cobra Family Picnic - Magnetic Anomaly (Cover)
Ein Album wie eine Mondlandung, das sich in die Reihe der Musikalben, die so heißen, wie sie klingen, ganz gut einreiht, haben die fünfeinhalb US-Amerikaner von Cobra Family Picnic im Mai 2017 hervorgebracht. Groovender, in den 1960er Jahren wurzelnder Spacerock mit elektronischem Flirren, schwebendem Gesang und hypnotischem Bass, irgendwo nahe Hawkwind einer- und Baby Woodrose andererseits angesiedelt, bestimmt die 38 beziehungsweise (in der aus unklarem Grund etwas längeren CD-Fassung) 47 Minuten.
"Magnetic Anomaly" ist allerdings auch ein Album der Gegensätze, was den drei Zwischenspielen namens "Interplanetary Travel", die wohl eine Art Rahmenhandlung darstellen sollen, geschuldet ist, die, wie der versierte Mathematiker und/oder Informatiker weiß, fälschlich als "001", "011" und "111" nummeriert sind und verschieden schwere Klanglandschaften abbilden. In "Interplanetary Travel 011" ertönt sogar Vogelgezwitscher, was im Weltraum gleich mehrfach merkwürdig ist. Der Gesamtqualität von "Magnetic Anomaly" schadet diese rüde Unterbrechung jedoch nur geringfügig.
Der Schreiber dieser Zeilen jedenfalls verbrachte die 47 Minuten Spielzeit von "Magnetic Anomaly" völlig losgelöst von der Erde und empfiehlt, den nun entstandenen Ohrwurm schnellstmöglich wieder zu vergessen und sich stattdessen auf die Verstandesreise zu begeben, die "Magnetic Anomaly" ist.
Ganz famos.
Reinhören: Ich schlage abermals Bandcamp.com vor, Amazon.de ist aber auch in Ordnung.
------------------------------------------------------------- - Hibushibire - Freak Out Orgasm! (Cover)
"Alter!"
Das war die erste Notiz, die ich beim Anspielen der vorliegenden Musik verschriftlicht habe, und wiederholte Leser meiner Texte nehmen vermutlich zu Recht an, dass ich nicht ohne einen guten Grund dazu neige, meine Sprache altersmäßig dermaßen weit zurückzudrehen, aber es gibt tatsächlich musikalische Werke, denen eine sonstwie erwachsene Sprache nicht gerecht würde.
Wenn ein Tonträger schon "Freak Out Orgasm!" heißt, dann erwartet man meist entweder eine Frank-Zappa-Reverenz oder andersartig total durchgeknallten Hörgenuss. Hier haben wir es mit Letzterem zu tun, was ich gut finde, weil ich total durchgeknallte Hörgenüsse mag und Frank Zappa nicht.
"Hibushibire" heißt laut Quellen, deren Japanisch zumindest besser ist als meines, ungefähr "Geheimnis der Taubheit", was ich nicht verstehe, weil ich bislang annahm, Geheimnisse seien nur dann als Geheimnisse qualifiziert, wenn man sie nicht per Lautsprecherwagen durch rege wuselnde Großstädte transportiert und sie überdies mit "Achtung, hier kommt ein Geheimnis!" anmoderiert, wobei das Japanische natürlich eine dermaßen hintersinnige Sprache ist, dass "Hibushibire" in einem, glaubt man dem virtuellen Waschzettel zu "Freak Out Orgasm!", alten japanischen Pornodialekt - ich finde es etwas schade, dass mir gerade kein alter deutscher Pornodialekt einfällt, von Sächsisch einmal abgesehen - auch "Ausrastorgasmus", "freak out orgasm" also, heißen kann. Japaner sind merkwürdig. Die drei hier beteiligten Musiker "heißen" Chang Chang, Ryu Matsumoto und 821, was ein so schöner Name ist, dass ich ernsthaft hoffe, niemals eine Frau zu finden, die möchte, dass ich ihrem Kind einen Namen gebe, denn sonst wird das Kind mich später hassen, und bei "Freak Out Orgasm!", fünf Jahre nach der Gründung des Trios veröffentlicht, handelt es sich laut verschiedenen Quellen entweder um das Debütalbum oder um den/die/das Debüt-EP der Gruppe, also noch nicht einmal ein richtiges Album, aber in einer Zeit, in der Musikalben ohnehin kaum noch mehr als eine halbe Stunde lang sein müssen, insbesondere dann nicht, wenn es um irgendwelche Geldesel geht, die es zu melken gilt, weshalb wenig "Musik" auf so viele separate Verkaufseinheiten verteilt wird wie es irgendwie möglich ist, ohne dass die Schar der Anhänger allzu schnell verärgert ist und ihr Taschengeld nicht mehr herausrückt, sind EPs von 39:18 Minuten Länge schon aus wirtschaftlicher Sicht bemerkenswert. Wie lang das erste Vollzeitalbum wohl sein wird? Wie lang ist so eine japanische Vollzeit?
Die vier enthaltenen Stücke, angeblich an nur einem Tag aufgenommen, heißen "Lucifer's My Friend" (die Krautrockband ähnlichen Namens ist an dieser Stelle völlig egal), "Hallucination Valley Blues - Flying Shiva Attack - Hallucination Valley Blues (Reprise)", "Trepanation Breakdown" und "Deep Throat River Holy Mountain High", wobei letzteres Stück mit fast 20 Minuten Länge eigentlich zusammengefasst schon völlig reichen würde, um jedem Leser dieses Absatzes, der einen mit dem meinen vergleichbaren musikalischen Vogel hat, sozusagen die Ohren wässrig zu machen (oder wie heißt das, wenn man eifrige Lust auf etwas zum Hören statt etwas zum Essen bekommt?), weshalb ich es jetzt nochmals höre und davon erzähle, warum mir dabei, um juvenil zu bleiben, voll einer abgeht: Weil es nämlich den mit aufgedrehtem Lautstärkeregler gespielten Stilmix aus psychedelisch fuzzgetränktem Bluesrock, japanischer Folkmusik und ungezügeltem RIO/Avant, der Hibushibires Debütwerk ausmacht, nicht bloß wiederholt, sondern auf die Spitze treibt, indem nämlich zunächst wie einst bei den Beatles fernöstliche Klänge ertönen, den ein textloser Chor begleitet, dann eine nervöse Gitarre über Bass und Schlagzeug soliert, bevor Gitarrist und Sänger Chang Chang in einer mir unbekannten Sprache so etwas wie Strophen zu den zuvor gehörten fernöstlichen Klängen singt. Die effektgeladene Gitarre walzt nach Abschluss dieses Gesangsteils das sich aufbäumende und hektisch um sich schlagende Schlagzeug mit schlichter Lautstärke sozusagen einfach platt. Sieben Minuten sind vorüber: Nach einem kurzen Intermezzo wettstreiten die entfesselten Instrumente, per Studionachbearbeitung abermals um hierzulande eher selten anzutreffende Instrumente wie Zurna und Santur erweitert, bis zur Klimax (Ohrgasmus eben) darum, welches wohl das dominante bleiben mag. Es folgt die Ruhe vor dem erneuten Sturm, ein Klangteppich mit Perkussion, von dem eine unbestimmte Gefahr ebenso auszugehen scheint wie eine unbestimmte Hoffnung, zu dem sich nach einiger Zeit wieder der textlose Chor gesellt. - Schnitt! Unbekannte Instrumente spielen eine beruhigend-hypnotische Melodie, deren Rhythmus man gerade zu finden glaubt, als das gesamte Instrumentalinventar ohne lange Vorrede wieder völlig durchdreht und jeden Gedanken an eine Orientierung vergessen lässt. Wer braucht Takte, wenn er stattdessen auch den Verstand verlieren kann? Es bratzt und hupt und brettert und knattert herrlichst und scheinbar ohne jeden Halt, bis plötzlich das Schlagzeugmotiv völlig unbemerkt wieder eine Regelmäßigkeit entwickelt hat und die letzte Strophe aufgrund der überhaupt nicht an etwas Zurückhaltung zu denken scheinenden Instrumente mehr gerufen als gesungen wird. Dem an schließt sich ein energiegeladenes Hardrocksolo, das nur so lange an Black Sabbath erinnert, bis einem der Name dieser Band wieder eingefallen ist, denn sofort zerstreut die Sprengung der Hardrockklischees mittels instrumentaler Eskalation die Irritation. "Deep Throat River Holy Mountain High" endet mit einem Ausblenden der Melodie vom Anfang und ist laut Plattenfirma ein "repräsentatives Lied" von Hibushibire, das oft auf Konzerten gespielt werde. Ich empfinde plötzlich das unbedingte Verlangen, mich davon eines Tages selbst zu überzeugen, falls ich bis dahin meine Sprache wiedergefunden habe. Alter!
Als Einflüsse nennen die Musiker unter anderem Can, Acid Mothers Temple und deren Nebenprojekte, King Crimson, Hawkwind und Träd, Gräs och Stenar. Wem das - wie mir - weder fremd noch unheimlich ist, der wird mit "Freak Out Orgasm!" auf eine fantastische Weise voll auf seine Kosten kommen.
Reinhören: Videos, Stream und Kauf empfehlen sich über Bandcamp.com.
------------------------------------------------------------- - Buffy Sainte-Marie - Medicine Songs (Cover)
"And now our history gets written in a liar's scrawl" (Bury My Heart at Wounded Knee)
Zur Abwechslung haben wir es hier mit Musik zu tun, die älter ist als sie klingt: Buffy Sainte-Marie wurde im Februar 1941 in einem kanadischen Reservat für Cree-Indianer geboren und ist seit ihrer Kindheit musikalisch aktiv. In den 1960er Jahren hing sie, so will es die Legende, mit anderen jungen kanadischen Künstlern herum, darunter Leonard Cohen, Neil Young und Joni Mitchell, die sie vermutlich nicht unbeeindruckt ließen. In den folgenden Jahrzehnten schrieb Buffy Sainte-Marie manches Lied und veröffentlichte - mit einer sechzehnjährigen Pause bis 1992 - manches Album. 2017 gesellte sich "Medicine Songs" hinzu, auf dem sich auch Lieder befinden, die von ihr schon vor Jahrzehnten erstmals gespielt wurden. Von einem bloßen kommerzorientierten "Best-of"-Album zu reden liegt mir aber fern.
Buffy Sainte-Marie klingt wie eine indianische Rockversion von Joni Mitchell und/oder Joan Baez: Es gibt sitztanztaugliche Folkmusik mit typisch indianischen Gesängen, mal elektronischer ("The War Racket", "Power in the Blood"), mal akustischer, dylanesque gar (etwa "Universal Soldier" und "My Country 'tis Of Thy People You're Dying", eine Art kanadisches Volkslied, das Buffy Sainte-Marie bereits 1966 aufgenommen hatte); es gibt Schlager ("Fallen Angels" oder das für Menschen, die Amerika mit den USA gleichsetzen, ungewöhnliche "America The Beautiful"), aber auch mal Gitarrenrock ("Bury My Heart at Wounded Knee", "Generation"). Mitunter ähnelt das der Musik, die in Deutschland in den 70ern und frühen 80ern ("Starwalker") oder ein halbes Jahrzehnt später ("The Priests of the Golden Bull") in die Hitparaden geschossen wurde ("Pop"), aber für Radio klingt das viel zu prima.
Zweifellos sind dem Radio Liedtexte in fremden Sprachen auch egal (immerhin spielt man dort auch gleichgültig "Walk On The Wild Side"), sonst wäre Buffy Sainte-Marie für die öffentliche Wahrnehmung vermutlich auch zu kritisch: Textlich befassen sich die "Medicine Songs" wie auch der überwiegende übrige Teil des Gesamtwerks der Sängerin mit der Verständigung zwischen Indianern und dem weißen Mann. Protestmusik eben - nur aus einer anderen Perspektive als der Westen das möglicherweise gewohnt ist. Jaja: Wer hört schon den Texten zu? Texte sind nur spannend, wenn sie gegen den Richtigen gerichtet sind. Trump. "Nazis" und so. Aber doch nicht gegen uns!
Ach, ach.
Reinhören: Wie wär's mit TIDAL?