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Die besten Alben im 1. Halbjahr 2019

Alles was sonst nirgends passt!

Die besten Alben im 1. Halbjahr 2019

BeitragAuthor: Tuxman » Do 11. Jul 2019, 20:56

Das erste halbe Jahr 2019 ist vorbei - schon jetzt bietet sich daher eine Gelegenheit, ein paar Worte über die passabelsten Musikalben des Jahres zu verlieren. Wie üblich erhebe ich keinen Anspruch darauf, eine vollständige Liste vorzulegen, zumal noch - zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Absatzes - ein halbes Jahr vor uns liegt. Natürlich war ich wie meist ungeduldig und habe bereits die diesjährigen Studioalben von Mono, The Claypool Lennon Delirium und Sunn O))) kurz bewertet, weshalb sie hier nicht mehr auftauchen.

Die anderen Musikwerke dieses ersten halben Jahres sind aber auch nicht unbedingt schlecht. Das wären diese hier:

  1. Ithaca - The Language of Injury (Cover)
    "I'm not here to make friends." (Youth vs. Wisdom)

    Zur Einstimmung auf das, was folgt, beginne ich diesmal mit etwas Metal- und Mathcoremusik. Das aus London stammende Quintett Ithaca, dem Brexit trotzend, überzog Europa 2019 mit ihrem ersten eigentlichen Studioalbum "The Language of Injury", nachdem sie mit einigen kürzeren Veröffentlichungen schon mal einen Vorgeschmack gewährt hatten. Die hier enthaltenen Stücke sind recht kurz, aber das ist nicht schlimm.

    "The Language of Injury" erreichte die Märkte im Februar, also bei eher unschönen Temperaturen, aber die enthaltene Musik hält hinreichend warm. Djamila Azzouz, die eine Frau ist, aber gar nicht so klingt, schraubt ihre Schreistimme in aberwitzige Intensität hinein, während Schlagzeuger James Lewis seine Bandkollegen (zweimal Gitarre, einmal Bass) maschinengewehrartig zur Höchstleistung an. Nach der Aufnahme von "The Language of Injury" wurde Bassist Drew Haycock allerdings ersetzt, was ich bedaure, denn sein Spiel auf diesem Album sagt mir zu. "The Language of Injury" wird im Internet als "chaotisch und aggressiv" beschrieben, was nur die halbe Wahrheit ist.

    Den taktversetzten, gitarrenbretternden Growlingattacken nämlich stehen Momente wie das instrumentale "(No Translation)" oder auch Teile des Titelstücks entgegen, in denen es geradezu sphärisch und sanft zugeht. Das verdeckt allerdings - zum Glück - nicht, dass die herausgeschriene Einsamkeit die Essenz ist, die dieses Album bildet. Jedem, dem auch manchmal zum Schreien zumute ist, ist es sicherlich ein Genuss; mir zum Beispiel.

    Ein Banause ist, wer noch sitzen bleibt.

    Reinhören: Stream und Kauf gibt es auf Amazon.de und Bandcamp.

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  2. Juleah - Desert Skies (Cover)
    "High on junk, that’s what we are." (Analogue)

    Den Regelmäßigen meiner Leser ist die oft sonnenbebrillte Österreicherin Juleah eine alte Bekannte: Nicht nur war "Strawberry Shake" von ihrem aktuellen Album "Desert Skies" im Februar 2019 wie schon 2015 ihr Lied "Beautiful for you" zur Montagsmusik avanciert, auch ihr Album "Melt Inside The Sun" endete bereits auf einer meiner Jahreslisten.

    Vielleicht kann man etwas daraus folgern, dass auch "Desert Skies" hier in dieser Liste auftaucht, mindestens jedoch, dass es Musiker zu geben scheint, die einen Qualitätsverlust ablehnen. Alles, was Juleah dafür tun musste, war es, so zu bleiben, wie sie war. "Desert Skies" ist ein Album voller Psychedelic Rock. Der "Falter" nannte es "Dreampop" und ich mag immer noch keine Genrenamen. Das Album ist ungefähr 39 Minuten lang, kommt mir aber kürzer vor.

    Natürlich dominiert die Gitarre dieses Album, wie sich das für anständige Rockmusik eben gehört, aber die Multiinstrumentalistin streut auch gern mal andere Töne, etwa die einer Orgel ("Catch-22"), ein, was zu einem Gesamtsound führt, der zeitgenössische Rezensenten zu der Bemerkung veranlasste, The Brian Jonestown Massacre habe hier offenbar seine Spuren hinterlassen. Auch Bluesrock, insbesondere über den herrlichen Bass, und Folk werden gekonnt eingeflochten. Auch die Stimme, vielschichtig hallend gemischt und ein bisschen frech klingend, enttäuscht noch immer nicht. Sie habe Gesangsunterricht genommen, erzählte sie in einem Interview anlässlich der Veröffentlichung von "Desert Skies". Zum Glück singt Juleah weiterhin auf Englisch. Österreichisch wäre doch wirklich eine Verschwendung.

    Reinhören: Man könnte sich das Video zu "Strawberry Shake" reinziehen; und sich dann, natürlich das ganze Album gönnen, etwa auf Amazon.de oder Bandcamp.

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  3. Cabinets of Curiosity - The Chaos Game (Cover)

    Bei Cabinets of Curiosity handle es sich, las ich soeben, um die "bekannteste Progband in Bordentown, New Jersey". Den Wahrheitsgehalt dieser Aussage kann ich nicht objektiv beurteilen, subjektiv ist es zumindest zutreffend, dass mir gerade keine andere Progressive-Rock-Band bekannt ist, die sich in Bordentown, New Jersey, befindet. Für die Beurteilung als "Progband" gibt es aber Anhaltspunkte: Sängerin Nat Hornyak nahm um den Jahreswechsel von 2018 auf 2019 herum an einem dieser Wettbewerbe auf Twitter teil, indem sie ein paar Musikalben nannte, die ihr etwas bedeuten. Darunter konnte der interessierte Leser auch etwas von Genesis, Jethro Tull und Yes - und keineswegs die schlechtesten ihrer Alben - finden. Sängerinnen setzen sich oft durch, ich verbuche das also als gutes Zeichen.

    "The Chaos Game" ist dabei das Debüt-Vollzeitalbum von Cabinets of Curiosity. Dem Internet ist ein/eine unbetitelte EP von Mai 2016 bekannt, seitdem wurde in der siebenköpfigen Besetzung lediglich der Keyboarder ausgetauscht. Eine gewisse Reife im Zusammenspiel der Band ist also anzunehmen.

    Und die ist tatsächlich gegeben: Nach "Death, She Walks On", einer Art A-Cappella-Gesang der Sängerin mit sich selbst (bekannt geworden durch den "Prophet's Song" von Queen) exerziert die Band den Canterbury durch. Dabei ist "Angular Sterility" eigentlich bloß Jazzrock mit abgedrehtem Gesang, der allerdings in einen gut gefüllten Eimer Beardfish und, der Flöte von Kristina Bacich sei's gedankt, Camel getaucht wurde. Beim Gesang kommen mir zumeist die Stolen Babies in den Sinn, was auch eine Art Qualitätsmerkmal ist. "Fractals & Coastlines", über 12 Minuten lang, ist eine Art Suite, deren einzelne Teile jedoch nicht ineinander übergehen, sondern nur - etwas einfallslos - hintereinander hängen. Zu hören sind Gentle Giant, Hatfield & the North und, vermutlich vor allem dank der mir mit jeder Minute etwas besser gefallenden Sängerin, Thinking Plague, bevor das Stück abermals mit gemalten Camel-Landschaften ausklingt. Etwas aus dem Rahmen des übrigen Albums fällt "In A Day", das ein Solostück von Nat Hornyak an Klavier und Mikrofon zu sein scheint, obwohl es mehrere Gesangsspuren gibt. Ich denke an Tina Turner und bin nicht unzufrieden damit.

    Es gibt einen companion zu "The Chaos Game", in dem Texte und eine Art Konzept drinstehen. Auf schnellen Erfolg haben sie es nicht unbedingt abgesehen. Das Album lebt von der Kombination aus der eindrucksvollen Stimme von Nat Hornyak und dem verspielten Jazzrock ihrer Mitmusiker, ungeachtet des Umstandes, dass das Wort "Mitmusiker" niemals verwendet werden sollte.

    Das Ziel von Cabinets of Curiosity, las ich, sei es, das Zeitalter des klassischen Progs wieder zum Leben zu erwecken. (Wie tötet man eigentlich Zeitalter?) Das Ziel haben sie nicht verfehlt.

    Reinhören: Bandcamp.com scheint die bevorzugte Anlaufstelle zu sein, auf Amazon.de gibt es wenigstens einen Download und die üblichen Hörschnipsel.

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  4. ni - Pantophobie (Cover)

    Im Dezember 2018 befand ich "Bran Coucou", das anscheinend bisher einzige Album von PinioL, für angenehm verrückt. PinioL ist ein Zusammenschluss von PoiL und ni, von letzterer Band gab es bisher nur ein einziges eigenes Studioalbum.

    Dies ist ihr zweites.

    Es wird unter anderem als RIO und Jazzcore beworben, was nach "Bran Coucou" recht nahe liegt und Assoziationen mit King Crimson weckt. In der Tat beginnt das erste der neun Titel, "Héliophobie", so instrumental und zerrissen, wie es auch die ProjeKcts aufzunehmen imstande waren. Pantophobie ist die Angst vor allen Dingen, dass alle neun bis elf - der erste ("Phonophobie") und der letzte ("Apéirophobie") Titel scheinen in der Bandcampvariante nicht vorhanden zu sein - Stücke eine Phobie benennen, ist daher nur konsequent. Nach etwa vier Minuten gibt es erstmals geschriene Vokaleinwürfe und das Album bleibt anschließend kantig irre.

    Das Quartett flackert zwischen Metal und Jazzigem umher, zerreibt Strukturen im Chaos. Nach meinen Erfahrungen beim Zusammenstellen dieser fast regelmäßigen Listen ist es nicht verfehlt, von typisch französischer Avantgardemusik zu sprechen; eben "RIO/Avant" im besten Sinne. Michael Bohli zieht das Fazit:

    “Pantophobie” passiert, und zwar zu jeder Sekunde.


    Und wer braucht Takte und Ordnung, wenn er stattdessen ein Geschehen haben kann?

    Reinhören: Vinyl, Downloads, CDs und Hörproben bietet Amazon.de feil, ansonsten gäbe es noch Bandcamp.

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  5. David Torn/Tim Berne/Ches Smith - Sun of Goldfinger (Cover)

    David Torn ist ein US-amerikanischer Jazzgitarrist, der bereits mit David Bowie, Bill Bruford, Tony Levin und Don Cherry zusammengearbeitet hat. Gemeinsam mit dem Saxophonisten Tim Berne sowie dem unter anderem von Secret Chiefs 3 bekannten Schlagzeuger Ches Smith hat er ein Album namens "Sun of Goldfinger" aufgenommen. Alle drei Musiker sind einander nicht unbekannt und halfen einander auch in der Vergangenheit bereits aus. Man verzeihe mir, dass ich als gelegentlich erfreuter Experimentaljazzhörer diesem Album manche Vorschusslorbeere in den Hals stopfte.

    Es hat sie alle geschluckt.

    Wie zu erwarten war, handelt es sich bei "Sun of Goldfinger" um ein rein instrumentales Album. "JazzTrail" sprach von einem Pflichtalbum für Anhänger neuer Musik, derer einer ich fraglos bin. Es gibt drei Stücke mit einer Länge zwischen 22 und 24 Minuten, was "Sun of Goldfinger" nicht nur relativ lang (aber keineswegs längenhaltig) macht, sondern auch ahnen lässt, wohin die Reise geht: Ich höre vor allem Freiform-Jazz, in dem das Improvisieren hoch gehalten wird, aber auch eine in keiner Sekunde kitschige Spielart der Weltmusik, vor allem in der zweiten Hälfte von "Spartan, Before It Hit". Sicher: Wer dem ungefähren beschriebenen Stil noch nie viel abgewinnen konnte, der kann dieses Album überspringen, ohne befürchten zu müssen, viel verpasst zu haben. Wer aber grundsätzlich für Jazz offen ist, dem scheint keine Minute dieses Albums eine Verschwendung von Zeit zu sein - auch und gerade nicht mir.

    Als "Debütalbum" wird es weithin benannt, was in dieser Konstellation vermutlich nicht falsch ist. Zwar ist im Jazz wechselnde Zusammenarbeit nicht ungewöhnlich, ich hoffe dennoch, "Sun of Goldfinger" bleibe nicht das erste und letzte gemeinsame Album der drei Herren.

    Reinhören: Amazon.de (kurz), TIDAL (lang).

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  6. De Staat - Bubble Gum (Cover)

    Von De Staat, einer niederländischen Popgruppe, berichtete ich zuletzt 2016, als ihr angenehmes Album "O" veröffentlicht worden war:

    (...) channeln De Staat mal Primus (...), mal die Pet Shop Boys, schwingen im Kosmos von Tanzpop (...), New Wave und Groove herum, ohne sich dabei in irgendwelche Grenzen zwängen zu lassen.


    Muss denn auf jedem Album ein ganz neuer Stil her? Ich finde: Nein. Und so ist auch "Bubble Gum" trotz seines Titels zwar ein Album mit Popmusik geworden, aber Kaugummipop sucht man weiterhin vergebens. Gewürzt wird "Bubble Gum" mit Früh-90er-Elektronik ("Pikachu") und einer beeindruckenden Eingängigkeit, ansonsten nehmen sie weiterhin die besten Primus-Alben auf, die nicht von Primus selbst stammen. "Bubble Gum" ist ein sehr lebendiges Album, das auch mal in Text und Stil Boybands ("Fake It Till You Make It") persifliert. Man sollte den Humor dieser Band mögen, ansonsten kann man De Staat nicht gänzlich genießen. Ich mag ihn und genieße, Tanzpop hin oder her. Mein Bedarf an Kurzweil bedankt sich artig für die Reverenz.

    Auf dem Niveau können'se gerne noch etwas bleiben.

    Reinhören: Es gibt ein gewohnt seltsames Video zum eröffnenden "KITTY KITTY", im Übrigen helfen Amazon.de und TIDAL womöglich weiter.

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  7. Kuhn Fu - Chain The Snake (Cover)

    Wir bleiben in den Niederlanden.

    Von dort, aus Groningen nämlich, kommen außer De Staat auch Kuhn Fu. Weil im deutschen Sprachraum der Name "Kuhn" vielleicht Vergleiche weckt, die nicht unbedingt angemessen sind, sei hier darauf hingewiesen, dass der Name eigentlich falsch ist, denn der Gitarrist und Sänger dieses Quartetts heißt Christian Kühn. Nach zwei Alben, die ebenfalls irgendwas mit "Kuhn" hießen, ist "Chain the Snake" nun das dritte Studiowerk der seit dem letzten Album "KUHNSPIRACY" (2017) lediglich am Schlagzeug umbesetzten Gruppe.

    In "Traktus" wird auf Deutsch geflucht, ansonsten ist der mal komödiantische ("Wolf's Muckenkogel"), meist aber wenigstens irgendwie schräge ("Marco Messy Millionaire") Gesang auf Englisch gehalten. Weil das einfallslos ist, spielt die Band dazu um so bemerkenswertere Musik: Es wird, kräftig unterstützt von Ziv Taubenfeld an der Bassklarinette, bläserorientierter Jazzrock hervorgebracht, der wieder einmal in guter, alter RIO-Tradition steht. Versetzte Rhythmen ("Gargamel") treffen auf crimsonesque Stücke ("Gustav Grinch")

    Auf den "Babyblauen Seiten" befand Siggy Zielinski im März 2019, Kuhn Fu seien "ein heißer Tipp für die Freunde von Avant-Jazz-Punk-Prog". Ich fühle mich angesprochen und bin nicht enttäuscht.

    Reinhören: Das komplette Album gibt es als Stream bei TIDAL und Bandcamp, bei letzterer Anlaufstelle sowie bei Amazon.de auch auf physischem Tonträger zum Verkauf.

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  8. Inter Arma - Sulphur English (Cover)

    Inter Arma ist zwar Latein, bezeichnet jedoch ein recht haariges Quartett aus Richmond. Diesem sei bescheinigt, dass es auf seinem seltsam benannten Studioalbum "Sulphur English" Sludge Metal spielt, der so gut ist, dass sogar ich ihn mag.

    Schrilles Pfeifen, dumpfe Schläge von fern: Mit "Bumgardner" beginnt "Sulphur English" rätselhaft, bevor nach einer Minute schleppender Doom Metal einsetzt. Lyrics gibt es noch nicht, wohl aber im folgenden "A Waxen Sea", in das "Bumgardner" übergeht, wenngleich man sie akustisch kaum versteht: "I raise my hands to the sea beyond, intoxicated by the winds that whip up from her fair shores", genau so klingt das hier Gehörte auch. Schönklang? Pah, Gebrüll - inmitten des Stücks gar: Gekreisch - zu Instrumentalrudelbums! Man hat ja hier einen Ruf zu verlieren (einen schlechten).

    Wer jetzt noch nicht tot aus dem Sessel gefallen oder panisch aus dem Fenster gesprungen ist, dem sei versichert, dass das Album dieses Niveau bis zum Ende durchhält, mitunter bereichert von Zwischenspielen wie einem unerwarteten, ausgedehnten Psychedelic-Hardrock-Gitarrensolo ("Citadel"), Doom- ("Blood on the Lupines") und Shoegazemomenten ("Howling Lands"). Dabei schweifen sie auch schon mal aus - das längste Stück "The Atavist's Meridian" ist mitsamt Spannungsaufbau und Klimax über zwölfeinhalb Minuten lang -, keinesfalls aber lassen sie es dabei langsam angehen. Inter Arma halten sich nicht mit Bitten auf, sie verteilen "reinigende Kopfnüsse" (Jake Walters) und das zu Recht.

    Dass das warme "Stillness", getragen von Schlagzeug und Akustikgitarre, in seiner ersten Hälfte neben den Spätalben von Pink Floyd nur aufgrund seiner seltsamen Unruhe besonders auffallen würde, widerspricht dieser Erkenntnis nicht, denn die zweite Hälfte erinnert wieder daran, womit wir es hier zu tun haben. Mich amüsiert der geschriene Titel des Stücks. Anscheinend gibt es auch eine Text-Klang-Schere.

    "Sulphur English" ist ein lautes, brutales Album. Es hat seinen Platz in dieser Liste redlich verdient. Bitte nicht schießen!

    Reinhören: Zu "Howling Lands" gibt es ein Musikvideo, ansonsten könnten Amazon.de, TIDAL und Bandcamp.com weiterhelfen.

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  9. Drahla - Useless Coordinates (Cover)
    "Have you ever seen a neon globe flicker?" (Stimulus for Living)

    Weniger brutal geht Drahla, eine britische Postpunkband, zu Werke. Nach einigen kürzeren Veröffentlichungen hat sie es 2019 endlich geschafft, ihr Debütalbum "Useless Coordinates" einer überraschten Öffentlichkeit zu präsentieren. Ihre Herkunft hat unter anderem den Vorteil, dass Sängerin Luciel Brown die schönere Form des Englischen von sich gibt, nämlich das Britische mit herrlich gedehnten Vokalen. Selbst schuld, wer den US-amerikanischen Dialekt wertschätzt, denn hier entgeht ihm was. Die Dame ist nie laut und aufgeregt, immer eher locker-luftig. Fein.

    Und die Musik selbst taugt auch was. "Gilded Cloud" etwa weist ein langes, immer wieder unterbrochenes intro auf. "Serenity" führt den stiltypischen Sprechgesang ein, erstmals sind hier auch die Saxophoneinwürfe von Gastmusiker Chris Duffin zu hören, die später immer wieder vorkommen. Mitunter ("Serotonin Level") denke ich an diejenige Besetzung von Van der Graaf Generator, in der noch David Jackson mitspielen wollte, obwohl wir uns hier in einem ganz anderen Genre bewegen. Auch im folgenden "Pyramid Estate" spielt das Saxophon neben dem dominanten Bass - den ich bei Postpunkplatten sehr schätze - eine gewichtige Rolle und bekommt sogar eine Solopassage. Anderswo ("Stimulus for Living", "Primitive Rhythm") versucht sich die Band an Grunge. Fast bin ich der Ansicht, Sonic Youth zu hören. Ich mag Sonic Youth.

    Das im Internet als zentrales Stück der Platte beschriebene "React/Revolt" ist ein aus anderen Gründen erfreuliches: Saxophon und Bass leiten mit instrumentalem Free Jazz ein, bevor nach zweieinhalb Minuten gitarrengetriebener Postpunk übernimmt, wie er auch später ("Serotonin Level") wieder zu hören sein wird. Das ansonsten recht normal postpunkende "Twelve Divisions of the Day" überrascht mittig mit einem erstaunlich lauten und druckvollen Teil mit angenehm schrägen Zwischentönen. Keine Sorge, eingeschlafen wäre ich auch sonst nicht. Dass Drahla aus der eher linken "Szene" stammen, ruft das letzte Lied "Invisible Sex" nochmals in Erinnerung, in dem es mit bedrückender Stimmung um erfundene Geschlechter geht. In Berlin könnte man damit auch erfolgreich werden.

    Insgesamt dominieren hier allerdings vergleichsweise lange Instrumentalpassagen, die für die gelegentlich sehr grünen Texte mehr als entschädigen. Platten wie diese höre ich selten wegen ihres lyrischen Anspruchs, aber die Melodien, die Melodien! Da sieht man (also: sehe ich) auch darüber hinweg, dass Lieder und Album vergleichsweise kurz ausfallen. Bonuspunkte gibt es im Übrigen für das schön schlechte Coverbild, das darauf hinweist, was drin ist. So was wird heutzutage ja viel zu selten gemacht.

    Reinhören: Das Album gibt es auf Amazon.de, Bandcamp.com und TIDAL.

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  10. Boltzmann Brain - Spacesquid Brain (Cover)

    Ein Boltzmann-Gehirn, darüber informieren verschiedene Publikationen, bezeichnet das menschliche Gehirn, das in einem beliebig großen Universum in einem beliebigen Zeitraum irgendwann durch quantenphysikalische Zusammenhänge unweigerlich entstehen wird. Boltzmann Brain kommen trotzdem aus Ilmenau. Das Universum erlaubt sich eigenartige Scherze.

    Dem Namen des Albums entsprechend haben wir es hier mit Spacerock zu tun, allerdings nicht in seiner unverfälschten Form, denn Boltzmann Brain mögen das Spiel mit den Stilen und lassen sich vom Krautrock ebenso inspirieren wie vom 70er-Fusion. Schon "Goodbye, Mr. Clooney" (neuneinhalb Minuten lang), das erste der nur vier Stücke, beginnt mit einem langen experimentellen Instrumentalintro und gewährt erst nach über viereinhalb Minuten Laufzeit etwas Entspannung. Eine stark verzerrte Stimme spricht energiegeladen Texte, die ich erst mal nachlesen müsste, aber nicht will. Das erinnert mich an Faust und ich bin bereits entzückt. Eher an der Frühphase von Can ist das folgende "Infinity" orientiert, das auf eine Jazzgrundlage aufgebaut ist. Der Sänger dreht allmählich durch, bellt und brüllt mal punkig, mal grungig, mal bluesig unverändert verzerrt ins Mikrofon. "I tried to see / what you showed to me", ach so, naja.

    Punkig ist auch "Sucqmah", das anfangs aus zu Punkrock durchgeführten Elektronikexperimenten besteht, sich aber anschließend dem Jazzrock zuwendet. Das Stück ist instrumental. Das Internet behauptet, der Text zum Lied laute "oh", aber das ist natürlich kein Text und das Internet sollte sich schämen. Falls jemand nicht so viel Zeit hat, wissen Boltzmann Brain Rat: "Until" ist , musikalisch betrachtet, eigentlich eine Zusammenfassung der ersten drei Stücke mit ein bisschen Text drin. Lang sind die Texte auf "Spacesquid Brain" allerdings allesamt nicht. Das macht nichts, dafür ist Spacerock auch nicht so gut geeignet.

    Reinhören: Amazon.de hat Schnipsel und Bezahlstream, Möglichkeiten zu Kauf und Komplettstream gibt es ansonsten auf Bandcamp.com.

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  11. BIG|BRAVE - A Gaze Among Them (Cover)

    Die Stadt Montréal kennen wir Musikliebhaber vor allem daher, dass Godspeed You! Black Emperor sowie ein halbes Dutzend personell verwandter Gruppen, zumeist mit Postrockhintergrund, sich dort beheimatet sehen. Bei mehreren von ihnen spielt unter anderem Thierry Amar (Bass und Kontrabass) mit.

    Selbiger gastiert auch auf "A Gaze Among Them", dem vierten Vollalbum von BIG|BRAVE aus derselben Stadt, zurzeit anscheinend bestehend aus Robin Wattie (Gitarre, Bass, Gesang), Mathieu Ball (Gitarre) und Loel Campbell (Schlagzeug). Das Album besteht aus fünf Stücken, grundsätzlich ein gutes Zeichen.

    Dass BIG|BRAVE trotzdem keinen schwermütigen Postrock aufnehmen, sondern sich etwas abseits tummeln, tut der Abwechslung ja durchaus gut. Mehr als einmal werde ich trotz des extrovertiert-aufgedrehten Gesangs an Sigur Rós' "Brennisteinn" erinnert. Ich höre Noiserock, Postmetal und Psychedelic Rock, umwoben von und verflochten mit Gitarrendrones. Das zweite und zweitlängste Stück "Holding Pattern" fällt dabei fast ein wenig aus der Reihe: Es beginnt ambient, geht dann aber wieder in beklemmend elektronische Psychedelic mit einem ungewöhnlichen, aber nicht störenden Stampfbeat über. Wenn ich etwas kritisieren müsste, dann, dass die Abmischung von "A Gaze Among Them" für einen etwas verwaschenen Klang sorgt, der die gedachte Punktzahl aber auch nicht deutlich senkt. Erfreulich ist es jedoch, dass ich das gar nicht muss und es deswegen auch sein lasse.

    Reinhören: Amazon.de, TIDAL und Bandcamp.com sind von mir empfohlene Reinhör- und zum Teil auch Kaufgelegenheiten.

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  12. The Warlocks - Mean Machine Music (Cover)

    Von einer Band, die so heißt, wie sie heißt, weil The Velvet Underground irgendwann auch mal so hießen, wird schon vor dem Hören einiges erwartet, jedenfalls von mir. Dass sie ein Album herausbringt, das "Mean Machine Music" heißt, verstärkt diesen Effekt.

    Dass "Mean Machine Music" von The Warlocks trotzdem keine Kopie von Lou Reeds "Metal Machine Music" ist, verzeihe ich ihr gern, denn ihrer Vorbilder ist sie sich trotzdem bewusst. Die gemeinsame Liebe zu Rock & Roll habe sie zusammengeführt, behauptet die Biografie auf der Bandcampseite, aber dahinter steckt mehr als Elvis Presley. "Rock & Roll" legt die Band auch großzügig aus, denn während ich die wohl bekannteste Rock-and-Roll-Band, die nur ein Album lang wirklich "Rock & Roll" - eines der Lieder hieß sogar so - zu spielen versucht hat, im Nuschelgesang ebenso wiedererkenne wie in den monotonen Rhythmen, die den Fuzz- und Droneschüben zugrunde liegen, ist vieles auf "Mean Machine Music" doch eher dem Postpunk zuzuordnen, woran der grollende Bass, der mal von Sänger und Frontmann Bobby Hecksher, meist aber von Christopher DiPino bedient wird, seinen angemessenen Anteil einnzufordern wohl berechtigt wäre.

    Genau genommen ist "Mean Machine Music" sogar zwei Alben, denn das Album ist sowohl in seiner normalen als auch in einer reduzierten, instrumentalen Version (also ohne Gesang) zu hören; nach "Tribute to Hawkwind", das auch genau so klingt, wie es heißt, beginnen die reprises jedes der fünf Stücke. In der Beschreibung ist dazu, frei übersetzt, zu lesen:

    Inspiriert von allem zwischen Stereolab, Krautrock und Death-Rock präsentiert dieses Album fünf neue Kompositionen und sucht diese Lieder dann für instrumentale Wiederaufnahmen erneut auf, die tiefe Schichten voller Melodie und Atmosphäre offenbaren!


    Das mit der "Melodie und Atmosphäre" klappt tatsächlich sehr gut. Der erste Teil des Albums begeistert mit dem Rückgriff auf den besseren Teil der Rockmusik der 1960er Jahre, der zweite Teil wiegt sich groovend ins Gehör und ins Innere. Ein Album zum Schwelgen.

    Reinhören: Wie inzwischen gewohnt stehen Amazon.de, TIDAL und Bandcamp.com bereits bereit. Offenbar ist die Instrumentalversion von "Tribute to Hawkwind" jedoch nicht überall enthalten, ich empfehle darauf zu achten.

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  13. Die Goldenen Zitronen - More Than a Feeling (Cover)
    "Ihr dürft hier bald gar nichts mehr dürfen!" (20x20)

    Dass die Goldenen Zitronen, vor vielen Jahren Spaßpunkband, wenig später Punksatiriker, seitdem Elektrotanzwasweißich, immer noch neue Sätze finden, die sie noch nicht vertont haben, überrascht mich auf jedem Album wieder. Dem sei beigefügt, dass auch Überraschungen vorhersehbar sein können. Die letzten paar Studiowerke haben mich tatsächlich etwas ermüdet zurückgelassen: Zu festgefahren schienen die Hamburger Schüler in ihrer Achtzigerästhetik.

    Auf "More Than a Feeling", Album Nummer 13, gelingt ihnen jedoch der textliche und melodische Brückenschlag zwischen ihren jüngeren Werken und Glanztaten wie "Schafott zum Fahrstuhl". Dichte Spät-80er-Elektronik gibt es auch weiterhin, ansonsten hat die Gruppe ihre musikalischen Grenzen in dem eigenartigen Dreieck zwischen Trip-Hop, Indie-Pop ("Nützliche Katastrophen") und dem, was textlich klischeehaft albern und musikalisch den Punkrock verspottend jedem Genre trotzt und was ich daher Zitronenstil nennen möchte ("Katakombe"), anscheinend noch längst nicht abschließend abgesteckt. Textlich sind sie unbeirrt in Hochform, wie man nicht erst in "Mauern bauen (testweise)" belustigt feststellen darf: "Was meinen sie mit 'Volk'? (...) Meinen sie damit, dass sie (...) um die Schweine, die sie essen wollen, die Schritte, die sie marschieren wollen, etwas herum bauen wollen?" Dazu wundervolle Neologismen wie "Mitdemschwanzwedelung" ("In der Schleife") und der einstmals enttäuschte Hörer (ich) kehrt freudig zurück.

    Ihre deutliche politische Haltung - heutzutage ist ja alles eine Haltung - fließt freilich aus jedem Moment auf diesem Album, beginnend bei "Es nervt", vorgetragen von "LaToya Manly-Spain von der Schwarzen Feministischen Bewegung" ("musikexpress"), die die Vereinnahmung ihrer Positionen seitens der Guten kritisiert, gipfelnd im Abschlussstück "Die alte Kaufmannsstadt, Juli 2017", in dem die ausgeuferten G20-Demonstrationen vor zwei Jahren zusammengefasst werden: "Wer vom Fach war, der wusste, was passieren würde." Die Goldenen Zitronen müssen es wissen, sie waren als musikalischer act mittendrin. Fraglich ist, ob die Demonstranten die hier vorgetragene Kritik an ihrer Berechenbarkeit als eine solche verstehen würden.

    "More Than a Feeling" bläst dem immerhin nur scheinbar müde gewordenen Zitronenschiff also wieder Wind in die Segel. Ihm sei allzeit eine Handbreit Wasser unter dem Kiel zuteil.

    Reinhören: Zu "Es nervt" gibt es ein gewohnt seltsames Video. Des Weiterem sind Amazon.de und TIDAL sehr freundlich zu interessierten Konsumenten, andere Streamingdienste bitte ich bei Bedarf selbst zu konsultieren.

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  14. Per Wiberg - Head Without Eyes (Cover)

    Bei Durchsicht meiner bisherigen Bestenlisten habe ich überrascht festgestellt, dass unter denjenigen Bands, von denen ich annahm, sie wären bereits darin vorgekommen, womit ich jedoch falsch lag, auch die schwedische Progmetalgruppe Opeth ist. Aus naheliegenden Gründen ändere ich das auch heute nicht, denn das diesjährige Album von Opeth - "In Cauda Venenum" - ist noch gar nicht erschienen. Stattdessen möchte ich ein wenig in ihrer Geschichte herumwühlen.

    Diese ist geprägt von stetigem Wandel: Bereits drei Jahre vor Veröffentlichung ihres Debütalbums "Orchid" (1995) war das letzte Gründungsmitglied David Isberg nicht mehr dabei, seitdem führt Gitarrist und Sänger Mikael Åkerfeldt die Band an. 2005 stieß Keyboarder Per Wiberg dazu, der drei Live- und zwei Studioalben lang dabei blieb. Neben seiner Aushilfe bei anderen Künstlern und seiner Mitgliedschaft bei den Spiritual Beggars hatte er jetzt sogar noch Zeit, ein erstes Soloalbum aufzunehmen. Es heißt "Head Without Eyes" und ist nicht schlecht.

    Im Internet wird es für seinen Abwechslungsreichtum gewürdigt und das nicht unberechtigt. In sechs Stücken, teilweise ("Anywhere the Blood Flows") über 11 Minuten lang, höre ich vor allem atmosphärisch dichten Hard-/Spacerock. Wer Hawkwind mag, dem sollte "Head Without Eyes" gleichfalls gefallen. Anderswo gibt es mal Doom ("Pile of Nothing"), mal Nick-Cave-taugliche Musik mit dazu passenden lyrics zu genießen: "I don't trust the light anymore" ("Fader") - so muss das sein. Der Pressetext zum Album schwafelt was von Van der Graaf Generator und Talk Talk, aber Presseschreiber interessieren sich auch meist nicht besonders für Musik.

    Wer einen Kopf hat, der höre. Gucken muss er ja nicht, das Coverbild ist ohnehin keines der schöneren dieses Jahres.

    Reinhören: TIDAL hat - wie oft - einen Komplettstream im Sortiment, für Kauf und Reinhören scheint Amazon.de geeignet zu sein.

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  15. Magma - Zëss (Cover)

    Hurra! Magma sind im fünfzigsten Jahr ihres wenigstens ideellen Bestehens zurück und führen ein Werk mit sich, an dem seit wenigstens 1977 gearbeitet wurde.

    Das jahrzehntelange Perfektionieren bereits live aufgeführter Rohfassungen hat dem erfreuten Rezensenten bereits einige sehr schöne Musikalben dieser Gruppe zu Gehör gebracht. Sollte es jetzt womöglich das letzte Mal sein? Vor inzwischen zehn Jahren hatte Bandchef und -gründer Christian Vander in einem Interview mitgeteilt, "Zëss" werde das letzte Stück sein, das er jemals aufnehmen werde. Inzwischen hat er diese Einschätzung zwar revidiert, aber ihn daran zu messen erscheint mir trotzdem nicht verkehrt. Magma haben sich selbst von Anfang an - mit einer kurzen Unterbrechung ("Merci", 1984) - immer wieder zu übertreffen versucht und sind damit selten gescheitert.

    "Zëss" ist, vielleicht gibt es auch deshalb erst im September eine nachgeschobene Vinylausgabe, ein einziges Stück von 37:57 Minuten Länge. Inhaltlich gehe es, das lässt sich herausfinden, um griechische Mythologie und um den letzten Tag vor dem großen Nichts. Zumeist lässt die Gestaltung der Alben von Magma ja Schlüsse auf die ihnen zugrundeliegende Mythologie zu und auch diesmal ist der Schriftzug "Zëss" ungefähr so gestaltet, wie man Texte eben so gestaltet, wenn man einen Bezug zu Griechenland herstellen will. Der Untertitel von "Zëss", sogar auf dem Album selbst zu lesen, ist "le jour du néant", also "der Tag des Nichts". Christian Vander, sonst vor allem am Schlagzeug sitzend, zieht es in "Zëss" seit über vierzig Jahren vor zu singen, seine Vertretung übernimmt Morgan Ågren von Mats/Morgan. Neben sieben weiteren Vokalisten, darunter die anscheinend unverwüstliche Isabelle Feuillebois, sowie den zurzeit nur noch sechs Magmamusikern selbst nahm auch das Prager Philharmonieorchester an der Aufnahme teil. Theatralik stand Magma schon immer gut.

    Apropos Untertitel: Das Stück besteht aus sieben Teilen, die ausnahmsweise neben einem kobaïanischen auch einen französischen Titel tragen. Das letzte dieser sieben Teile heißt "Dümgëhl Blaö (Glas Ultime)", was, wie zuvor schon "Šlağ Tanz" (2015), wahrscheinlich nur im Deutschen witzig klingt. Ich bin unvermindert froh darüber, dass Magma mit wenigen Ausnahmen darauf verzichten, die Sprache ihres Heimatlandes Frankreich zu der ihren zu machen. Schön ist es auch, dass auf "Zëss" anfangs die Stärken der klassischen Magma-Phase, nämlich das Düstere und Hymnische, wieder über das allzu Beschwingte ("Félicité Thösz", 2012) siegen. Popmusik ist nicht von Dauer.

    "Ẁöhm dëhm Zeuhl stadium", untertitelt als die "Hymne des Nichts", läutet das Album insofern sehr willkommen ein, nämlich getragen mit Klavier und tonlosem Chorgesang. Nach zweieinhalb Minuten setzt der Chef persönlich mit warm vorgetragenem Kobaïanisch ein, jedoch nur kurz, denn der Chor übernimmt schnell wieder. "Da Zeuhl Ẁortz dëhm Ẁrëhntt" überrascht dann doch: Zu einem monotonen Klavierrhythmus und treibendem Jazzschlagzeug wird ein französischer Monolog gehalten. Ich bin verwirrt, zumal es nicht mal scheußlich, sondern sogar sehr stimmig klingt. Christian Vander fehlt vielleicht das Kratzig-Kühle, das ich bislang für eine Voraussetzung gehalten hatte, um französischer Sänger sein zu dürfen. Der nahtlose Übergang in "Dï Ẁööhr Sprašer", "la voix qui parle" ("die sprechende Stimme"), fällt auch nur durch den Wechsel der Sprache auf, denn ohne Stilbruch fährt der Sänger, immer orchestraler begleitet, auf Kobaïanisch fort, das immer wieder, vielleicht nicht zufällig, wie eine wenigstens gelungene Parodie des Deutschen klingt: "Und wir am werden Stürmen sein", was man trotz des gerollten Rs wahrscheinlich aber ganz anders schreibt. Die zweite Hälfte dieses Teils wird im Wesentlichen bei gehaltenem Klavierrhythmus mit Scatgesang bestritten. Niemand soll behaupten, Magma hätten ihre Jazzwurzeln verdrängt.

    Nach einem kurzen hymnischen Zwischenspiel mit erneutem textlosem Chorgesang schließt "Štreüm Ündets Ẁëhëm" an, in dem das Orchester, wohl überwiegend streichend, endlich einmal aufdrehen darf. Dem Klavierrhythmus wird hier ein vorübergehendes Ende gesetzt, Blasinstrumente übernehmen. "Zëss Mahntëhr Kantöhm" ist eine Fortsetzung von "Dï Ẁööhr Sprašer" mit einem noch dichteren Orchester und dominantem Chor. Einen Stilwechsel kann erst "Zï Ïss Ẁöss Štëhëm", in dem der Chor Jesus Christus - Sanctus! Sanctus! - besingt, wieder aufweisen, was nicht nur textlich auffällt, denn man kennt Magma nicht unbedingt als besonders christliche Band. Tatsächlich scheint "Zëss" andauernd jubelnder und fröhlicher zu werden. Und das Blöde ist: Mir gefällt das sogar.

    Aber Moment: Plötzlich verstummen die Instrumente. Wenig Orchester und ein zurückhaltendes Klavier bestimmen das abschließende "Dümgëhl Blaö", das beinahe als Schlager durchginge, wenngleich als außergewöhnlich beschwörender und überdies auf Kobaïanisch gesungener. Zwar wird so der Bogen zum Beginn des Albums geschlagen, aber dieses Herausreißen aus dem Beschwingten erfolgte doch etwas unversehens.

    Mein Fazit? Nun, "Zëss" ist selbst im sowieso nicht gerade gewöhnlichen Gesamtwerk von Magma ein auffälliges Album, das konsequent auf dem auf den letzten paar Alben eingeschlagenen Weg fortschreitet, ohne den Ursprung aus den Augen zu verlieren. Als Einstieg in den Zeuhl mag es ungeeignet sein, aber Spaß macht's dann eben doch. Sollte es das letzte Studioalbum Magmas bleiben, so war es wenigstens ein würdiger Abschied.

    Reinhören: Überrascht stelle ich fest, dass sowohl Stream als auch Amazonschnipsel sich zurzeit noch rar machen beziehungsweise gemacht werden. Auf YouTube gibt es jedoch eine Wiedergabeliste mit einer etwas älteren, aber bereits sehr guten Aufführung von "Zëss".

    Was sagt der Kalender? Ah, spät dran. Dann machen wir den Rest im Schnelldurchlauf:

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  16. Pelican - Nighttime Stories

    Diejenigen, die sich an energiegeladenem instrumentalem Postmetal erfreuen können, verleitet die Ankündigung eines neuen Albums der vier Herren von Pelican gelegentlich zu Ausdrücken der Freude, die auch an "Nighttime Stories", ihr angriffslustig riffendes, doomendes und dröhnendes sechstes Studioalbum, nicht verschwendet sind. Amazon.de.

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  17. Lost in Kiev - Persona

    "Persona" ist effektverzierter, gitarrengetriebener Konzept-Postrock aus Frankreich mit genau richtig eingesetzten gesprochenen Texten, für den tief in den Archiven von Russian Circles und Explosions in the Sky gewühlt wurde und der 2019 zu den bisher besten der Dekade gezählt werden kann. Bandcamp.

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  18. Spotlights - Love & Decay

    Hinter diesem unauffälligen Titel verbirgt das Trio aus New York schön dichten Doom/Shoegaze, der es sich, verfeinert mit bemerkenswert sanftem Gesang, auf dem optimalen Platz zwischen Schwere und Melodie gemütlich gemacht hat. Bandcamp.

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  19. Lost World Band - Spheres Aligned

    Nach Aufnahmen in Moskau und New York erfreut diese russische Band den Freund klassischen Progressive Rocks sowie östlicher Folklore mit einer gelungenen Kombination aus beidem, dargeboten mit Flöte, Geige, brummendem Bass, schneidender Gitarre und einer angemessenen Menge an schön zurückhaltenden Vokaleinlagen. Bandcamp.

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  20. Karakorum - Fables and Fairytales

    Fast bleiben wir im Genre: Karakorum kredenzen eine vortreffliche Creme aus Retroprog, Canterbury und Classic Rock in einer Darbietung, die mit perlendem Bass und rauchigem Gesang besticht. Bandcamp.

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  21. Labirinto - Divino Afflante Spiritu

    Heißt italienisch, kommt aber aus Brasilien: Das im Februar veröffentlichte "Divino Afflante Spiritu", aus unklaren Gründen mit Großbuchstaben vor jedem Wort, vereint bretternden Postmetal mit endlich mal passendem Gesang, nämlich heiserem Growling, obwohl das Album weitgehend instrumental stattfindet. Bandcamp.

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  22. The Moth Gatherer - Esoteric Oppression

    Was dieser Liste ja auch noch gefehlt hat, war ein wenig Postmetal, und The Moth Gatherer servieren ihn auf einer reichhaltig gefüllten Platte mit Hauptgängen in den Geschmacksrichtungen Drone, Ambient und Blackmetal mit gebrüllten lyrics ("The Drone Kingdom"); da verzeiht man auch das Übernehmen der schrecklichen Unsitte, ein Album mittels fadeout einfach auszublenden ("Phosphorescent Blight"), statt sich ein gutes Ende zu überlegen. Bandcamp.

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  23. Cities of Mars - The Horologist

    Einen noch für den Weg: Das schwedische Trio Cities of Mars veröffentlichte im April 2019 ihr zweites Volllängenstudioalbum "The Horologist", beworben als eine Art Konzeptalbum über die mythische Geschichte des Planeten Mars, auf dem sie - manchmal ein bisschen zu ausschweifend und monoton ("The Last Electric Dream"), aber dennoch beachtenswert - dem Hörer einen hervorragenden smoothie aus Stoner Rock und Sludge präsentieren, wenngleich mein Lieblingsstück auf dem Album - "Work Song", das sich auf ein mehrstimmiges Folk-intro stützt und allmählich ausufert - eigentlich gar nicht ins Konzept passt. Bandcamp.

Mehr - und die Rückschau auf die letzten paar Jahrzehnte in der Musik - gibt es wie gewohnt in etwa einem halben Jahr an gewohnter Stelle zu lesen.

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(E. Hemingway)
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